Wenn Migranten immer die „Anderen“ sind – hier und in Moria

Judith Kohlenberger
am 10.09.2020

Der kürzlich präsentierte Integrationsbericht zeigt deutlich: Österreich ist ein Einwanderungsland. Jeder Vierte hat Migrationshintergrund, ist also entweder selbst im Ausland geboren oder hat Eltern, die zugewandert sind. Die hierzulande stark ausgeprägte Bildungsvererbung trifft Kinder aus sozioökonomisch schlechter gestellten Familien, darunter eben viele mit Migrationshintergrund, stärker als jene aus bildungsaffinen Haushalten.

Das sieht man auch bei der schulischen Integration jener Kinder, die im Zuge der großen Fluchtbewegung 2015 nach Österreich gekommen sind: Für die Mehrheit von ihnen erfolgte der Übergang ins Regelschulsystem sehr rasch, sodass sich der Anteil von 74,2% außerordentlichen Schülerinnen und Schülern (2016/17) auf 37,3% im Schuljahr 2018/19 reduzierte. Das spiegelt die Bedeutung der sozialen Herkunft wider: Viele syrische Geflüchtete stammen aus der gut gebildeten Mittelschicht ihres Landes und bringen belegbar hohe Bildungsaspirationen mit.

Bei türkischen Einwanderern der 2. und 3. Generation ist diese Bildungsnähe oft nicht vorhanden, weil ihre Eltern und Großeltern bewusst als niedrig qualifizierte Gastarbeiter für den österreichischen Arbeitsmarkt angeworben wurden. Aufgrund der gering ausgeprägten und zuletzt von der OECD kritisch konstatierten Bildungsmobilität hierzulande schaffen es auch deren Kinder und Enkel nur selten, einen höheren formalen Bildungsabschluss zu erlangen.

Die Präsentation und mediale Begleitung des Integrationsberichts dominierten aber nicht diese zentralen Befunde für die Zukunft unserer zunehmend pluralistischen Gesellschaft, sondern eine Strategie, die bereits in den letzten Jahren den defizitorientierten Migrations- und Integrationsdiskurs in Österreich geprägt hat: Othering.

Darunter versteht man eine Form der permanenten Grenzziehung, durch welche die „Anderen“ (engl. „Other“) als Bedrohung für das Selbst wahrgenommen werden, und zwar häufig auf Basis ihrer Ethnizität, Herkunft, Religion, Nationalität oder Sprache. Bestimmten Personen oder Gruppen werden besondere, negative Merkmale zugeschrieben, aufgrund derer sie als anders(artig), fremd und in weiterer Folge hierarchisch niedriger gestellt oder minderwertig klassifiziert werden. Damit grenzt man sich von ihnen ab, „belegt“ ihre vermeintliche Unterlegenheit und erhöht gleichzeitig den eigenen Status. Es handelt sich also, kurz gesagt, um das konsequente, anhaltende und eindringliche „Andersmachen“ von Migrantinnen und Migranten.

Durch stetes „Othering“ legitimiert man jegliche gesetzliche, soziale und politische Ungleichbehandlung der „Anderen“, weil sie eben nicht „Wir“ sind. Zuletzt zeigte sich das eindrücklich an den epidemiologisch nicht immer nachvollziehbaren Reisewarnungen für die häufigsten Herkunftsländer österreichischer Migranten.

Während so manches EU-Land ähnlich hohe Infektionsraten aufwies, wurden ausschließlich Drittstaaten wie Serbien und Bosnien-Herzegowina mit Reisewarnungen bedacht – darunter auch die mediterrane Hafenstadt Kotor, die sich immerhin auf der Liste der „20 sichersten Destinationen Europas“ findet.

Anders als bisherige Hygiene- und Sicherheitsmaßnahmen, die sich sinnvollerweise immer an die gesamte Wohnbevölkerung (und nicht, beispielsweise, an bestimmte Risiko- oder Berufsgruppen) richteten, setzte die Bundesregierung in der Kommunikation auf bewusste Segregation: Man adressierte „Menschen mit Wurzeln in den Westbalkanstaaten oder der Türkei“ mit besonders eindringlichen Worten und dem Appell, die Warnungen doch bitte ernst zu nehmen. Damit wurde gleichzeitig gegenüber der Mehrheitsgesellschaft signalisiert, dass Migrantinnen und Migranten eben so begriffsstutzig, unsolidarisch und risikoaffin wären, dass sie einen gesonderten Aufruf bräuchten.

Ähnliche Dynamiken ließen sich in der Art und Weise beobachten, wie der aktuelle Stand der Integration in Österreich diskutiert wurde. Mit Migration verbundene Problemlagen, wie zum Beispiel Bildungs(miss)erfolg, Dequalifikation am Arbeitsmarkt oder häusliche Gewalt, werden konsequent religionisiert und ethnisiert, also mit der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion und/oder ethnischen Gruppe verknüpft, um dadurch die Abwertung ebendieser voranzutreiben. So werden die geringeren schulischen Kompetenzen von Kindern mit Migrationshintergrund ihrer Herkunft oder dem Islam zugeschrieben, während strukturelle Ursachen geflissentlich ausgeblendet werden.

Muslimische Kinder gelten als „bildungsfern“, das Schlagwort „Brennpunktschule“ ist zu einer Chiffre für Bildungseinrichtungen mit einem hohen Anteil an ausländischen Schülern geworden. Dabei zeigen zahllose Studien wie der eingangs erwähnte OECD-Bericht, dass – bedingt durch fehlende soziale Aufstiegsmöglichkeiten – vor allem sozioökonomischer Stand und formaler Bildungsabschluss der Eltern über den späteren schulischen Erfolg des Kindes entscheiden. Da Bildung aufgrund fehlender Chancengleichheit und eines frühzeitig trennenden Schulsystems in Österreich stark vererbt wird, setzen sich bestehende Ungleichheiten fort. Wie die Coronakrise und das damit verbundene Homeschooling zuletzt verdeutlicht haben, fehlt es vielen Kindern mit Migrationshintergrund an finanziellen Ressourcen und Unterstützung durch die Eltern (die oft selbst nicht gut Deutsch sprechen), um an den Bildungserfolg der Schüler ohne Migrationshintergrund aufzuschließen.

In der Analyse des österreichischen Teils der Europäischen Wertestudie, veröffentlicht im Sammelband Quo vadis, Österreich? Wertewandel zwischen 1990 und 2018 (Hg. Julian Aichholzer, Christian Friesl, Sanja Hajdinjak, und Sylvia Kritzinger, 2019), wird die Dynamik des Othering wie folgt charakterisiert: „Der typische Wunsch nach Abgrenzung oder Schaffung von Distanz zu einer sozialen ‚Unterschicht‘ (bildungsfern, Sozialfall, kriminell, Frauen unterdrückend) wird mitunter politisch ‚geframt‘, nämlich als ‚religiöse Unterschicht‘ stilisiert.“

Diese anhaltende „Fremdmachung“ von (muslimischen) Migranten zeigt sich auch auf Ebene der Gesetzgebung, etwa in Form von Islamgesetz, Moscheenschließungen und Verhüllungs- und Kopftuchverboten, und schlägt sich erwartungsgemäß auch in den Wertvorstellungen und dem Verhalten der Mehrheitsgesellschaft nieder.

Das hat teils schockierende Folgen: Bei einer laufenden Studie der WU Wien, in welcher ich gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen der ÖAW die Inklusion geflüchteter Frauen erforsche, gab jede vierte afghanische Frau an, seit ihrer Ankunft in Österreich in der Öffentlichkeit schon mindestens einmal angeschrien oder angespuckt worden zu sein oder sogar tätliche Gewalt erlebt zu haben. Die Aufforderung der Integrationsministerin, sich kulturell zu integrieren und auch „mit dem Herzen anzukommen“, wirkt da wie blanker Hohn.

Die allergrausamste Konsequenz eines kontinuierlichen Andersmachen zeigt sich dieser Tage aber im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos: Irgendwann sind Menschen durch ihre Klassifizierung als gesichts- und gefühllose, aber hochgefährliche „Flüchtlingswelle“, „Strom“, oder „Flut“ so derart fremd gemacht, dass sie einfach keinen Platz mehr in der Kategorie „Mensch“ finden. Dafür aber in elendigen, eben menschenunwürdigen Lagern in Schlamm, Dreck und Feuer.

 

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