Daten, Demokratie und Dunkelziffern

Katharina T. Paul
am 25.05.2020

In den letzten Wochen wurde die Daten-Kritik immer lauter: weder gebe es ausreichend (gute) Daten zur COVID19 Infektionsrate, noch würde die Qualität der Daten ausreichen um umfassende Begleitforschung zu ermöglichen. Auch eine effektive Risikostratifizierung sei schwierig, da bei Testungen wichtige Hintergrunddaten – unter anderem sozioökonomische – nicht erhoben würden.  Ähnlich problematisch sei auch die aufgrund der mangelhaften Datenlage nur eingeschränkte Möglichkeit, über Informationen der Sozialversicherungen Risikogruppen zu identifizieren. Die fragmentierte Datenlage verhindere auch begleitende Versorgungsforschung zu den Auswirkungen der Pandemie auf die Primärversorgung und psychosozialen Aspekten. Nie zuvor war Datenpolitik also so prominent auf der politischen Agenda in Österreich. Die Bundesregierung, so schien es, befreite dieser Datenmangel zugleich von der Verpflichtung, Evidenz für ihre politischen Entscheidungen darzulegen.

Welche Rolle spielen Daten in der derzeitigen Krisenpolitik und was hat Datenpolitik mit Demokratie zu tun? Das etwas sperrig benannte Future Operations Clearing Board der Bundesregierung folgt dem Ruf nach transparenter Politikgestaltung und soll eine neue Schnittstelle zwischen Wissenschaft, Politik, und Gesellschaft bieten. Denn hier kommen ExpertInnen aus verschiedenen Disziplinen zusammen, die gemeinsam an dringenden gesundheitspolitischen, aber auch langfristigen gesellschaftspolitischen Fragen arbeiten. Coronapolitik muss sich auf epidemiologische Erfassungen verlassen können –  vor allem jene aus dem Epidemiologischen Melderegister (EMS), in dem auch COVID-19 Fallzahlen erfasst und beobachtet werden. Diese bilden die Grundlage für Schätzungen von Dunkelziffern, ökonomischen Hochrechnungen, und Risikostratifikation.

Bezeichnenderweise war in Österreich bis zuletzt der Zugang zum EMS bis vor kurzem eingeschränkt; politische Maßnahmen waren somit nicht immer nachvollziehbar. In anderen Ländern wie der Niederlande, Dänemark, und dem Vereinigten Königreich hingegen ist der Zugang zu solchen Daten für Forschende gang und gäbe. Forschende müssen dafür über bestimmte Qualifikationen verfügen und Expertise im Handhaben von derartigen Daten vorweisen können – wie beispielsweise  im Datenschutz und im Einhalten forschungsethischer Prinzipien. Derart qualifizierte Forschende gibt es in Österreich durchaus, sei es an Universitäten, an außeruniversitären Forschungsinstituten wie dem IHS, oder politikberatenden Forschungsinstitutionen wie der Gesundheit Österreich GmBH (GÖG).

Doch eine Öffnung dieser Dateninfrastrukturen ist freilich nicht immer im Interesse der Politik, da sie auch wissenschaftliche Evaluierung politischer Maßnahmen bedeutet.

Nach immer lauter werdender Kritik zieht die Bundesregierung nun allerdings nach und errichtet das COVID-19 Future Operations Clearing Board als multidisziplinäre Expertenplattform aus unterschiedlichen Bereichen der Wissenschaft – mit ihrer Hilfe soll die COVID-19 Politik ab nun “datengestützt” und “evidenzbasiert” werden.

Das Mantra der Evidenzbasierung gilt es jedoch mit Vorsicht zu betrachten. Eine scharfe Trennung zwischen Wissenschaft beziehungsweise Evidenz und Politik kann es nicht geben – schließlich sind auch in den besten Modellen Unsicherheiten und Annahmen, die auf Werten und Normen bestehen (wie zB soziale Gerechtigkeit oder Solidarität). Vielmehr gilt es zu hinterfragen, welche Rolle wissenschaftliche Expertise in der Politikgestaltung spielt und wie diese dennoch demokratisch verankert und legitimiert sein kann.

Im Modell des Future Operations Clearing Boards scheint etwa die Gestaltung der Schnittstelle zwischen Politik und Wissenschaft noch nicht ausverhandelt: die Transparenz des Beratungsprozess, die Darstellung unterschiedlicher wissenschaftlicher Perspektiven, sowie die politische Unabhängigkeit der beteiligten WissenschaftlerInnen – die sich dieser Aufgabe ehrenamtlich widmen – sind Kriterien, an denen das neue Gremium durchgehend bewertet werden sollte. Das Future Operations Clearing Board ist allerdings zumindest in seiner Besetzung mit ausgewiesenen WissenschaftlerInnen ein zumindest symbolischer Fortschritt. Denn Coronapolitik wird von nun an nicht nur epidemiologisch, sondern auch gesamtgesellschaftlich bewertet.

Auch jenseits von Corona kann das Board dreierlei Wirkungen haben.

Zum einen könnte die gegenwärtige Krise eine Chance für ein Sichtbarmachen der Datenlücken bedeuten und damit eine Verbesserung von Datenzugang in Österreich: Denn dies ist nicht nur relevant für Politikgestaltung sondern ermöglicht auch, dass viele WissenschafterInnen an einer dringenden Fragestellung arbeiten können und verschiedene Perspektiven bieten können – und nicht nur die Haus- und HofexpertInnen, die das Vertrauen des jeweiligen Bundeskanzlers genießen und auf Zuruf, anstatt über transparente Mechanismen, in die Politikgestaltung eingebunden sind.

Zum zweiten gilt es, mit Unsicherheit umzugehen zu lernen, wie SozialwissenschaftlerInnen wie Helga Nowotny, Jeremy Ravetz und Silvio Funtowicz mit ihrem Verständnis von ‘post-normaler Wissenschaft’ vorschlagen. Dieser Ansatz ist besonders relevant in Politikfeldern, in denen Fakten unsicher sind, Werte umstritten, und Entscheidungen zugleich dringlich. Die Miteinbeziehung von gesellschaftlichen Werten in wissenschaftlichen Analysen erlaubt nicht nur eine Demokratisierung des wissenschaftlichen Prozess, sondern einen breiteren Evidenzbegriff. Zudem erlangt hier Unsicherheit einen wichtigen Stellenwert: Denn gerade in diesem Raum der Unsicherheit- wie wir sie aus Modellierungen kennen – haben gesellschaftliche Werte Platz. Eine klare Artikulation dieser Aspekte können somit auf wissenschaftliche Politikberatung demokratisch legitimierend wirken.

Zudem ist die Pluralität wissenschaftlicher Ansätze in diesem Modell kein Hindernis: Beispielsweise ist die Maskenpflicht wissenschaftlich nicht unumstritten, jedoch kann mit politischen Werten gut argumentiert werden, warum diese Entscheidung getroffen wird: Auch wenn die bisher zumeist anekdotische Evidenz zum Mund-Nasen-Schutz unzureichend ist, so die britische Gesundheitswissenschaftlerin und Medizinerin Trish Greenhalgh, sei das politische Prinzip des Vorsorgeprinzips ausreichend um die Maskenpflicht einzuführen. In seiner sozialen Bedeutung stellt die Maskenpflicht zudem ein wichtiges Regulierungsinstrument dar, welches an ‘physical distancing’ erinnert, aber soziale Kontakte ermöglicht, ohne substanzielle soziale oder ökonomische Kosten zu generieren.

Zuletzt hat die Regierung mit dem neuen Future Operations Clearing Board die Chance, Transparenz in die Politikgestaltung zu bringen. Die Besetzung des Boards ist im Gegensatz zum früheren ExpertInnengremium öffentlich ersichtlich, und auch in der Frage der Evidenzbasis von Krisenpolitik verspricht das Gremium Besserung. Denn gerade in Zeiten von digital health ist das Angebot – wenn nicht die Verpflichtung zu – besseren Daten Pflicht, und nicht Kür.

 

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