Fehlender Gesundheitszugang von Migranten schadet allen

Judith Kohlenberger
am 13.05.2020

Bereits zu Beginn der Coronakrise zeichnete sich eine Vermutung ab, die sich zunehmend zu bestätigen scheint: In Italien, einem der von der Pandemie am heftigsten betroffenen Länder, trug die hohe Zahl an undokumentierten, von der Modeindustrie ausgebeuteten chinesischen Näherinnen zur raschen Ausbreitung des neuartigen Coronavirus bei. Zehntausende Arbeiterinnen ohne gültigen Aufenthaltsstatus, die in den großen Modemetropolen des Landes unter teils menschenunwürdigen Bedingungen tätig waren, haben keine Krankenversicherung und damit keinen Zugang zur Gesundheitsversorgung. Im Falle einer Erkrankung konnten sie sich weder kostenfrei testen noch behandeln lassen, in ihren engen Behausungen und Arbeitsstätten das Virus aber rasch weitergeben. Das hatte, wie sich rasch zeigte, dramatische und weitreichende Konsequenzen für die gesamte italienische Bevölkerung, nicht nur für die betroffene Gruppe an irregulären Migrantinnen.

Am traurigen Beispiel Italiens verdeutlichte sich, wie wichtig niederschwelliger Zugang zum Gesundheitssystem für alle im Land lebenden Menschen ist, unabhängig vom Aufenthaltsstatus. „Der Gesundheitsschutz beruht nicht nur auf einem gut funktionierenden Gesundheitssystem mit Krankenversicherung für alle, sondern auch auf sozialer Inklusion, Gerechtigkeit und Solidarität“, so der Tenor eines Artikels in der renommierten medizinischen Fachzeitschrift The Lancet zum Höhepunkt der COVID-19-Krise. Diese Erkenntnis ist bei weitem nicht neu, genauso wenig wie der Umstand, dass der Gesundheitszugang von Migrantinnen bereits vor Corona von einer eklatanten Schieflage gekennzeichnet war.

Besonders betroffen waren und sind die vulnerabelsten Gruppen von Migrantinnen, darunter Asylwerbende und Menschen ohne gültigen Aufenthaltsstatus. Gerade sie haben aufgrund prekärer Wohn- und Arbeitsverhältnisse oft keine Möglichkeit, sich ausreichend sozial zu distanzieren oder zuhause zu bleiben, und sind somit einem größeren Ansteckungsrisiko ausgesetzt. Die Angst vor Abschiebung hindert viele daran, im Krankheitsfall ärztliche Hilfe aufzusuchen oder sich, im Falle eines COVID-19-Verdachts, testen zu lassen. Gerade das wäre in der jetzigen Situation nicht nur für die Betroffenen, sondern unsere gesamte Gesellschaft fatal. Laut einer Studie des European Centre for Social Welfare Policy and Research aus dem Jahr 2019 leben in Österreich um die 27.000 Personen ohne solchen Versicherungsschutz. Diese Zahl ist mit einigen Unsicherheiten verbunden, da Personen, die nicht in Österreich gemeldet sind, von Vornherein ausgenommen werden. Rechnet man auch sie in die Schätzung mit ein, könnte der Wert fast doppelt so hoch liegen, also bei etwa 50.000 Menschen.

Doch selbst für Migrantinnen, die sich rechtmäßig im Land aufhalten, arbeiten und Steuern zahlen, und damit den gleichen Zugang zu medizinischer Versorgung genießen sollten wie österreichische Staatsangehörige, offenbaren sich beträchtliche Hürden in der gesundheitlichen Teilhabe. Das zeigt etwa die Studie „Refugee Health and Integration Survey“ (ReHIS) aus dem Jahr 2018, die auf einer quantitativen Erhebung unter fünfhundert syrischen und afghanischen Geflüchteten in Österreich basiert. In der im Fachjournal Health Policy veröffentlichen Studie wurde unter anderem deutlich, dass zwei von zehn befragten geflüchteten Männern und vier von zehn Frauen sogenannte „unmet health needs“ haben, also unbehandelte gesundheitliche Probleme. Gerade niedergelassene Fachärztinnen werden von Geflüchteten wesentlich seltener in Anspruch genommen als von Österreicherinnen. Besonders auffallend ist die Diskrepanz in der Präventivmedizin und der Dentalmedizin: Während in den vergangenen zwölf Monate rund 75% der österreichischen Befragten einen Zahnarzt besuchten, waren es unter Geflüchteten nur um die 27%. Das führt mitunter zu wesentlich höheren Folgekosten, nicht nur für die Betroffenen selbst, sondern auch für das Gesundheitssystem.

In Zeiten von Corona gibt noch ein weiteres Studienergebnis Anlass zu Sorge: Geflüchtete suchen doppelt so häufig Spitalsambulanzen auf wie Österreicherinnen, was auf kulturelle Gründe, aber auch fehlende Information über Fachärztinnen sowie nicht vorhandene Dolmetschmöglichkeiten im niedergelassenen Bereich zurückzuführen ist. Spitalsambulanzen sind aber nun aber genau jene Orte, die man nach Möglichkeit meiden sollte, vor allem dann, wenn man selbst COVID-19-Symptome zeigt. Neben Unwissenheit und unzureichendem Informationsfluss (12%) nannten 21% der Befragten fehlende Erreichbarkeit bzw. lange Wartelisten als Hürden beim Gesundheitszugang im niedergelassenen Bereich. Die deutsche Sprache wurde von jedem zehnten Befragten als Barriere beim Aufsuchen von medizinischer Beratung und Betreuung genannt.

Diese bereits lange vor COVID-19 bestehenden Zugangshürden werden während der Pandemie durch den Umstand verschärft, dass Informationen über Eindämmungsmaßnahmen und Gesundheitsangebote erst sehr spät oder unvollständig in die wichtigsten Migrantensprachen übersetzt wurden. Dadurch wird offenkundig, wie wenig wir in Österreich tatsächlich in einem nationalen Selbstverständnis als Einwanderungsgesellschaft angekommen sind. Auch die Gesundheitshotline 1450 ist für viele Migrant*innen weiterhin nicht niederschwellig erreichbar; ohne ausreichende Deutschkenntnisse muss man unter Umständen lange auf Rückruf warten. All das stellt in der jetzigen Situation eine gefährliche Gemengelage dar.

Denn weil Migrationshintergrund häufig mit niedrigem sozioökonomischen Stand, niedriger Bildung und damit schlechterem Gesundheitszustand korreliert, ist die Ansteckungsgefahr für viele Migrantinnen ungleich höher als für viele Österreicherinnen. Durch ihre Arbeit als Systemerhalterinnen, vor allem in niedrig qualifizierten Branchen wie der Reinigung oder dem Handel, sind es gerade Migrant*innen, die oft einer höheren Last und einem höheren Risiko während der Krise ausgesetzt waren. Jede/e dritte Beschäftigte in der nicht-akademischen Krankenpflege- und Geburtshilfe hat Migrationshintergrund (Statistik Austria, Mikrozensus-Arbeitskräfteerhebung). In der Nahrungsmittelherstellung sind 33% der Beschäftigten ausländische Staatsbürger*innen, am Bau 30%, im Einzelhandel 22% (Quelle: BMAFJ). Zum Vergleich: Der Anteil von ausländischen Staatsangehörigen an der österreichischen Wohnbevölkerung beträgt 16,7%. Diese Menschen systemisch mit schlechterem Gesundheitszugang zu konfrontieren, ist in der Krise also doppelt dramatisch.

Folgerichtig fordert der Verband der europäischen Wissenschaftsakademien in einem gemeinsamen Statement mit den wichtigsten medizinischen Einrichtungen besseren Zugang zum Gesundheitssystem für Migrant*innen. Dazu zählen auch bessere, umfangreichere und vergleichbare Daten und die wissenschaftliche fundierte Aufklärung über die häufigsten Mythen im Zusammenhang mit Migration, Flucht und Gesundheit. In Österreich greift die Initiative #undokumentiertgesund, ein Zusammenschluss von Aktivist*innen und Mediziner*innen, die Forderungen auf: Menschen ohne gültigen Aufenthaltsstatus – zum Beispiel abgelehnte Asylwerbende – sollen Zugang zu Krankenversicherung und mehrsprachigen Meldestellen haben. Langfristig bedeutet das nicht nur geringere Kosten und somit eine Entlastung für das Gesundheitssystem, sondern bessere Gesundheit für alle im Land Lebenden: Je rascher Verdachtsfälle getestet und behandelt werden können, desto effizienter kann die Eindämmung des Virus voranschreiten.

Die Coronakrise führt uns deutlich vor Augen, dass Versäumnisse in der Gesundheits- und Integrationspolitik am Ende des Tages allen in Österreich lebenden Menschen schaden. Wenn Personen mit Migrationshintergrund keine Möglichkeit haben, Eindämmungsmaßnahmen umzusetzen und ihre Gesundheit zu erhalten, befördert das die Ausbreitung des Virus, worunter schlussendlich die gesamte Gesellschaft leidet. Wir befinden uns zurzeit alle im gleichen Sturm – jetzt ist es wichtig, dass alle ins gleiche Boot kommen.

 

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