Kennen Sie Gerda Lerner? Falls nicht, lernen Sie sie unbedingt kennen

Katharina Prager
am 06.05.2020

Als feministische Historikerin stellt man sich vor, dass der 100. Geburtstag einer „Pionierin der Frauengeschichtsforschung“, die ein Kind dieser Stadt war, in Wien rauschend gefeiert werden müsste. Tatsächlich wurde er dieser Tage nur in den einschlägigen frauen- und genderspezifischen Wiener Kreisen wahrgenommen.

Das Leben und Wirken der Historikerin Gerda Lerner (1920–2013) bildet – wie das vieler durch das NS-Regime vertriebener Menschen – eine Art Hohlraum im kulturellen Gedächtnis Österreichs. Zwar erfuhr sie, spät im Leben, auch in ihrem Geburtsland Anerkennung und erhielt in den 1990ern zahlreiche Auszeichnungen wie das Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst. In Wien gibt es einen Gerda Lerner-Hof und einen kleinen Gerda Lerner-Park. Hinter den Kulissen der offiziellen Ehrungen ist sie aber weiterhin kaum jemandem ein Begriff. Es ist jedes Mal beklemmend, wie die Zerstörungen der österreichischen Demokratie zwischen 1934 und 1938, die Lerners Leben prägten, hier noch immer nachwirken. Gerade in den derzeitigen vielfältigen Krisen hilft es aber, gegen Vergessen und Verdrängen, gegen Backlash und Desinteresse Bezüge zu ihren Erfahrungen und Ideen herzustellen.

Lerner erlebte als Tochter einer wohlhabenden Familie eine behütete Kindheit im Roten Wien. Die geladene politische Atmosphäre führte in ihrer Familie zu Spannungen – zwischen dem konservativen Vater Robert Kronstein, Inhaber der Rathausapotheke, und der emanzipierten Mutter Ilona Kronstein, einer Künstlerin sowie zwischen der Tochter und beiden Elternteilen. Lerner, eine ausgezeichnete Schülerin, wurde um 1934 in kommunistischen Gruppen politisch aktiv und verband ihr illegales Engagement paradoxerweise mit Verehrung für den zunehmend reaktionären Satiriker Karl Kraus. Kurz vor ihrem 18. Geburtstag im Frühjahr 1938 wurde Lerner zusammen mit ihrer Mutter im Gestapo-Gefängnis am Morzinplatz inhaftiert, als Geisel zur Erpressung ihres geflüchteten Vaters. Der antifaschistische Aktivismus der Schülerin blieb glücklicherweise unbemerkt. Nach sechs Wochen wurde sie entlassen, um – unter weiteren Schikanen – zu maturieren und ihre Ausreise vorzubereiten. Diese traumatischen Ereignisse, den Verlust ihrer bürgerlichen Rechte, ihre Vertreibung und Flucht verarbeitete Lerner mehrfach – schriftstellerisch, historiographisch und autobiographisch.

Ohne ihre Familie, die sich im Exil zerstreute, erreichte Lerner 1939 die USA, wo sie als Flüchtling mit schlechten Englischkenntnissen nur schwer Arbeit fand: „Ich habe jeden Drecksjob gemacht, den es für Frauen gab, jeden.“ Sie arbeitete in Fabriken, als Dienstmädchen, als Verkäuferin und als Röntgenassistentin. Es gelang ihr, wie sie es sich vorgenommen hatte, „eine Amerikanerin zu werden“. Sie gründete mit dem Filmcutter Carl Lerner, den sie als Feminist beschrieb, eine Familie und trat der Kommunistischen Partei bei, wodurch die beiden unter McCarthy erneut Angst und Verfolgung ausgesetzt waren. Neben ihrem zivilgesellschaftlichen Engagement, der Versorgung der beiden Kinder und der Hausarbeit, versuchte Lerner sich in diesen Jahren als Schriftstellerin zu behaupten. Es entstanden einige Geschichten, aber zum Durchbruch kam es nicht.

Recherchen zu einem Roman über die Grimké-Schwestern, die sich für die Aufhebung der Sklaverei und Frauenrechte einsetzten, führten Lerner mit 38 Jahren „zufällig“ zur Aufnahme eines Geschichtsstudiums. Damit begann jene akademische Karriere, die die Geschichtswissenschaft veränderte. Durch ihr Engagement als weltweit rezipierte Autorin, als Lehrende und als Netzwerkerin trug sie entscheiden dazu bei, dass Frauen- und Geschlechtergeschichte als Fach heute nicht mehr wegzudenken ist.

Wie viele Wegbereiterinnen eines Feldes polarisierte Lerner, wenn sie in ihrem Hauptwerk „Women and History“ (1986/1993) die Entstehung des Patriarchats und des feministischen Bewusstseins großräumig von der Antike bis ins 20. Jahrhundert erklärte. Nicht alle bemerkten, dass die konservativ wirkende ältere Dame, die bald von der Gendertheorie überholt schien, bereits nach Überschneidungen zwischen verschiedenen Formen der Unterdrückung (Intersektionalität) fragte oder den Begriff des „Othering“ vorwegnahm. Ihre Forschung reflektierte Lerner – darin vielen voraus – immer wieder autobiographisch: Sie überlegte selbstkritisch, warum sie lange gebraucht hatte, sich mit der Frauenbewegung zu verbünden oder sich mit jüdischer Geschichte zu befassen.

1984 kam Lerner zum V. Internationalen Historikerinnentreffens nach Wien. Die Wiederbegegnung mit ihrer Geburtsstadt, ihrem Rassismus und Antisemitismus, bewegte die 64-Jährige. Österreichischen Historikerinnen wie Gabriella Hauch wiederum machte dieser Besuch schmerzlich das Fehlen der „wissenschaftlich-feministischen Mütter und Großmütter“ bewusst. Doch auch abseits der Universität fehlt Lerners Geschichte weiterhin, um uns vieles zu lehren – Resilienz in krisenhaften Zeiten, Widerstand gegen die Zerstörung der Demokratie, wie Unterdrückung funktioniert, was Geschlechtergerechtigkeit alles beinhaltet und warum sie so schwer zu erreichen ist. Ihre wissenschaftliche Autorität sollte klar machen, dass Kinderbetreuung nicht naturgegeben Frauensache ist und dass es notwendig ist, die Perspektiven von marginalisierten Menschen einzubeziehen, um Krisen zu bewältigen und Zukunft besser zu gestalten.

P.S.: Lerners umfangreicher Nachlass liegt an der Schlesinger Library in Harvard und beschäftigt eine internationale Forschungscommunity, die ihre Thesen weiterdenkt. Wenn es irgendwann wieder geht, sollten wir da auch hinfahren und inzwischen Lerner lesen.

Buchtipps aus dem FALTERSHOP:

Feuerkraut. Eine politische Autobiografie (Czernin 2015)

Es gibt keinen Abschied (Czernin 2017)

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