Vor dem Virus sind alle gleich? Mitnichten.

Judith Kohlenberger
am 20.03.2020

Selten wurden uns die sozialen Unterschiede in unserem Land so eindringlich vor Augen geführt wie während der Coronakrise, und selten zeigte sich so anschaulich, dass diese Ungleichheit allen, nicht nur den unmittelbar Betroffenen, schadet. Das beginnt im Berufsleben: Die Möglichkeit, bequem aus dem Home Office zu arbeiten, sinkt mit dem Einkommen. Im ärmsten Viertel der Bevölkerung können nur knapp 10 Prozent auf Heimarbeit zurückgreifen, bei den reichsten 25 Prozent sind es mehr als die Hälfte.

Somit offenbart die jetzige Ausnahmesituation auch, wer die wahren SystemerhalterInnen sind: Neben Ärztinnen und Ärzte sind das vor allem Beschäftigte der Müllabfuhr, des öffentlichen Verkehrs, von Lieferdiensten und im Bauwesen, es sind Reinigungskräfte, Pflegepersonal, Supermarktangestellte, und Kindergartenpädagoginnen.  Das sind zu einem großen Teil Frauen, denn sie arbeiten überwiegend in den nun relevanten Betreuungsberufen, im Pflegebereich und im Lebensmittelhandel, wie eine Analyse des Momentum Instituts zeigt. Und auch Menschen mit Migrationshintergrund sind in diesen Berufsfeldern deutlich überrepräsentiert. Das „Team Österreich“, das Kanzler, Vizekanzler und Gesundheitsminister dieser Tage unisono beschwören, besitzt also zu einem großen Teil nicht die österreichische Staatsbürgerschaft, hält unser Land aber unter Einsatz der eigenen Gesundheit am Laufen.

Ausgerechnet diese Menschen sind es auch, die in den letzten Tagen vermehrt in die Kritik geraten sind: Vor allem Jugendliche mit Migrationshintergrund würden sich nicht an die Verordnungen zur Selbstisolation halten, sie wären in Gruppen draußen unterwegs, würden keinen Mindestabstand einhalten und sich nicht kooperativ verhalten. Die vordergründige Erklärung dafür, nämlich mangelnde bzw. zu späte Übersetzung der Maßnahmen zur Eindämmung des Virus in die wichtigsten Migrantensprachen (Türkisch, Arabisch, BSK), erklärt einen Teil des Phänomens – und offenbart gleichzeitig, wie wenig Österreich in seinem Selbstverständnis als Einwanderungsland angekommen ist, wenn es einmal darauf ankommt. Jahrzehntelange Versäumnisse in der Integrationsarbeit werden jetzt mit einem Schlag offenkundig, und es zeigt sich nun drastisch, warum Investitionen in Sprache und Inklusion von MigrantInnen am Ende des Tages allen in Österreich lebenden Menschen zugute kommt.

Und doch greift es zu kurz, die angeblich mangelnde Kooperation von MigrantInnen einzig und allein auf Sprachbarrieren zu schieben und damit strukturelle Gründe auszublenden. Denn für viele migrantische Familien sind die sozioökonomischen Bedingungen wesentlich bestimmender als ihre Herkunft: Die beengte, prekäre Wohnsituation vieler einkommensschwacher Haushalte, vor allem in urbanen Zentren, macht es fast denkunmöglich, 23 von 24 Stunden gemeinsam zuhause zu verbringen.

Die bereits jetzt steigenden Fälle häuslicher Gewalt, zu denen Familien- und Justizministerin bereits ein Maßnahmenpaket präsentierten, führen uns die traurigen Konsequenzen von Heimquarantäne vor Augen. Gleichzeitig mutet die Selbstgerechtigkeit, mit der nun Solidarität eingefordert wird, im Einzelfall oft absurd an: Es wird zwar hingenommen, dass eine Handelsangestellte acht Stunden täglich ihre Gesundheit an der Supermarktkassa riskiert (in den meisten Fällen ohne jegliche Sicherheitsvorkehrungen seitens des Arbeitgebers), wenn sie sich aber nach Feierabend mit ihren Freundinnen im Park trifft, um all dem Irrsinn für ein paar Minuten zu entkommen, unterstellt man ihr Verantwortungslosigkeit, Egoismus und schlicht Ignoranz.

Während die nun ausgerufenen Maßnahmen so umsichtig wie notwendig sind, verdeutlichen sie doch, dass die Leichtigkeit, mit der sie umgesetzt werden können, maßgeblich von den eigenen Ressourcen abhängt: In einem geräumigen Apartment mit Dachterrasse oder einem Haus mit Garten lässt sich die soziale Isolation wesentlich angenehmer ertragen als in einer dunklen Zweizimmerwohnung, die man sich womöglich noch mit Partner und Kindern teilt. Mancherorts genießt man die neu gewonnene Freizeit und geht mittags (alleine!) laufen, während einige Meter daneben Arbeiter auf der Großbaustelle weiter schwitzen und sich anhusten lassen müssen.

Immer schon prekär lebende EinzelunternehmerInnen, von der selbstständigen Physiotherapeutin bis hin zum Kulturschaffenden, bangen um ihre Existenz, während man sich andernorts freut, endlich Zeit für lang aufgeschobene Heimarbeiten oder Yogaeinheiten zu haben. Auch die Konsequenzen der Schulschließungen sind sozial selektiv: Während Kinder aus Mittelstandsfamilien die „Lernpause“, die ihnen COVID-19 zwangsweise beschert, wohl leicht aufholen können werden, wird es für ihre MitschülerInnen aus bildungsfernen Haushalten deutlich schwerer. Einerseits können sie seltener auf Unterstützung ihrer Eltern, die selbst oft nicht gut Deutsch sprechen, zählen, andererseits fehlt es auch an notwendiger Infrastruktur, vom eigenen PC bis hin zu ausreichend Datenvolumen. Selten waren Klassen- und Einkommensunterschiede so deutlich im Alltag sichtbar.

Doch nicht nur für weniger privilegierte, sondern auch „alternative“ Lebens- und Familienkonzepte, von Patchwork bis Singlehaushalten, stellt der Maßnahmenkatalogen zur Eindämmung der Pandemie eine Herausforderung dar. Wer sind die „Menschen, mit denen man zusammen wohnt“, wenn man halbwöchentlich den Wohnort wechselt? Wie sollen Alleinerzieherinnen ohne Fremdbetreuung und ohne Mithilfe der Großeltern nicht nur für die Bildung ihrer Kinder Sorge tragen, sondern nebenbei noch ihrer Lohnarbeit nachgehen? Warum dürfen geschiedene Väter zwar weiter das System erhalten, aber nun monatelang ihre Kinder nicht sehen, wenn sie nicht im selben Haushalt leben? In der Krise, so mag man meinen, verengt sich der Blick.

Gleichzeitig steigt nun auch der Bedarf an unbezahlter Arbeit. Auffällig wurde bereits, dass weibliche Expertinnen im öffentlichen Diskurs noch seltener zu Wort kommen – vielleicht, weil die nun mit Kinderbetreuung und Versorgung der Eltern bzw. Großeltern alle Hände voll zu tun haben. Eine Rückkehr in traditionelle Rollen, in ein neues Biedermeier, wäre eine fatale, aber realistische Folge dieser Krise. Dabei sollte nun allen deutlich werden, welche gesamtgesellschaftliche Aufgabe Care- und Sorgearbeit darstellt, und wieviel tagtäglich vom oft minder geschätzten und schlecht entlohnten Lehr- und Betreuungspersonal geleistet wird.

Es mag eine schöne Geste sein, abends jenen, die unsere Gesellschaft am Laufen halten, Applaus zu spenden. Anstatt aber vom Balkon aus die hart arbeitende Bevölkerung anerkennend zu beklatschen und sich danach, auch im übertragenen Sinne, wieder in die eigenen vier Wände zurückzuziehen, braucht es für die Zeit nach Corona (und die wird kommen) eine radikale Neubewertung von bezahlter wie auch unbezahlter Arbeit. Man wird hinterfragen müssen, ob Manager ein Zehnfaches der Billakassiererin verdienen sollen, wenn sich während der Pandemie mit aller Deutlichkeit zeigte, auf welche Berufsgruppen man im Ernstfall verzichten kann, und auf welche nicht.

Empathie und Solidarität in Zeiten von Corona bedeutet nämlich auch, andere Lebensrealitäten wahrzunehmen und daraus resultierendes Verhalten nicht automatisch abzuwerten. Eigene Privilegien zu reflektieren und die moralische Überlegenheit zurückzufahren. Zu begreifen, dass soziale Ungleichheit am Ende allen schadet, weil sie kooperatives Verhalten in der Krise erschwert oder gar verunmöglicht. Und gerade wenn wir den Luxus von Home Office und Lieferdiensten genießen dürfen, haben wir die Verantwortung, neben den vielen schweren Aufgaben, die dann anstehen werden, auch dieses Kapitel anzugehen.

 

Weitere Ausgaben:
Alle Artikel des FALTER THINK-TANK finden Sie in der Übersicht.

12 Wochen FALTER um 2,50 € pro Ausgabe
Kritischer und unabhängiger Journalismus kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit einem Abonnement!