2015 darf sich wiederholen

Judith Kohlenberger
am 09.03.2020

Der Stehsatz „2015 darf sich nicht wiederholen“ hat derzeit wieder Hochkonjunktur in der politischen Kommunikation, und zwar quer durch das Parteienspektrum. Zuletzt betonte Sebastian Kurz im Gespräch mit der Kleinen Zeitung, dass es dieses Mal kein „Durchwinken“ geben werde. Im Rahmen eines Antrittsinterviews mit der Kronen Zeitung Ende 2018 scheute auch SPÖ-Bundesparteivorsitzende Pamela Rendi-Wagner nicht davor zurück, in die Drohkulisse des „Rekordjahres“ 2015 einzuzahlen. Auf internationaler Ebene warnen Angela Merkel, François Hollande und selbst die Außenpolitikerin der Linken, Sevim Dagdelen, vor Zuständen wie vor fünf Jahren. Dieses politische Framing der Ereignisse des Sommers und Herbsts 2015 als singuläre Katastrophe, deren Wiederholung mit allen Mitteln zu vermeiden sei, ist auf mehreren Ebenen höchst problematisch.

Einerseits wird dadurch all jenen Männern, Frauen und Kindern, die seit 2015 in Österreich eine neue Heimat gefunden haben, suggeriert, sie wären gerade mal ein notwendiges Übel, mit dem sich die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes nun eben, nolens volens, arrangieren müssten. Übersehen wird hier die Tatsache, dass es sich beim Recht, in anderen Ländern um Schutz anzusuchen und zu erhalten, um ein Menschenrecht handelt, das in Österreich Verfassungsrang genießt.

Ebenso blendet die Warnung vor 2015 jenen Beitrag aus, den Asylberechtigte in Österreich in zunehmendem Ausmaß leisten: So ist bereits jeder zweite Geflüchtete, der 2015/16 Asyl und damit uneingeschränkten Arbeitsmarktzugang erhalten hat, in Beschäftigung. Das sind rund 30.000 Personen, etwa ebenso viele sind arbeitssuchend oder in Schulung. Dass wir „immer noch mit den Folgen der Flüchtlingskrise beschäftigt“ sind, wie kürzlich von Integrationsministerin Susanne Raab erklärt, trifft also nur auf einen Teil der neu zugewanderten Menschen zu. In Anbetracht der zahlreichen Herausforderungen, von fehlenden Sprachkenntnissen bis hin zu psychischen Belastungen aufgrund von Kriegs- und Fluchterfahrung, ist die Integrationsleistung, die seit 2015 von Geflüchteten sowie von zahlreichen Helfenden auf Seiten der Behörden, des AMS und der Zivilgesellschaft binnen kurzer Zeit erbracht wurde, beachtlich.

Aber nicht nur integrations-, sondern auch demokratiepolitisch scheint es wenig hilfreich, ständig das Narrativ des „Rekordjahrs 2015“ und seinen „versagenden Institutionen“ zu verbreiten. Richtig ist, dass sowohl einzelne Nationalstaaten wie Österreich als auch die EU als Gesamtes wesentlich besser auf den „Großen Sommer der Flucht“, wie er auch genannt wird, vorbereitet sein hätten können.

Die Lage in Syrien und in den großen Flüchtlingslagern seiner Nachbarländer, allen voran Jordanien und Libanon, war lange Zeit absehbar und wurde von großen Hilfsorganisationen wie UNHCR und Ärzte ohne Grenzen fortwährend betont. Bei der vielzitierten „Flüchtlingskrise“ handelte es also vorrangig um eine Krise der verantwortlichen Regierungen, aber auch eine (hartnäckig andauernde) Krise der Solidarität unter den EU-Mitgliedstaaten. Viele, aus politischen Kalkül teils bewusst herbeigeführte Szenen an Grenzübergängen, in Erstaufnahmestellen und auf Bahnhöfen, die im Jahr 2015 sowohl Geflüchteten als auch Österreicher*innen unnötig Angst bereitet haben, hätten durch bessere Koordination, Weitsicht und Vorbereitung vermieden werden können.

Dennoch hat Österreich das Jahr 2015 gut bewältigt, was sich nicht nur in oben zitierten, ersten Integrationserfolgen Geflüchteter auf dem Arbeitsmarkt zeigt. Die Zivilgesellschaft ist erstarkt und stark geblieben: Zehntausende Menschen in Österreich nahmen ihr Herz in die Hand und halfen Zehntausenden Menschen, die in Österreich ankamen. Viele damals gegründete Vereine sind weiter aktiv, wenn auch etwas weniger laut und sichtbar als noch vor einigen Jahren.

Das liegt auch an den zunehmenden Anfeindungen, mit denen sich Engagierte in der Flüchtlingshilfe konfrontiert sehen – ein Extrembeispiel dafür ist das Vorgehen rechter Schlägertrupps gegen Mitarbeitende von Hilfsorganisationen auf Lesbos. Von politischen Entscheidungsträgern wird diese gefährliche Dynamik, ob bewusst oder unbewusst, befeuert. Denn Phrasen wie „2015 darf sich nicht wiederholen“ zeugen auch von mangelnder Wertschätzung gegenüber den unzähligen, Großteils ehrenamtlich tätigen Helfenden, die es weiterhin durch adäquate finanzielle Ressourcen, aber auch psychosoziale Begleitung bei Burn-Out und psychischen Belastungen zu unterstützen gilt.

Denn es ist auch ihnen zu verdanken, dass der große Beitrag, den Zivilgesellschaft und NGOs im Jahr 2015 geleistet haben, schlussendlich auf staatlicher Ebene gespiegelt wurde, was in der rückblickenden Bewertung häufig außer Acht gelassen wird.

Die große Fluchtbewegung diente als Katalysator, um in Österreich endlich Strukturen zu schaffen, die eines Einwanderungslandes würdig sind: Dazu zählen das Integrationsgesetz und das Integrationsjahr mit seinen verpflichtenden Deutsch- und Wertekurse und Arbeitstrainings genauso wie punktuelle neue Maßnahmen, darunter die Wiener Jugendcolleges und die AMS Kompetenzchecks – ein weltweites Leuchtturmprojekt, welches sogar mit dem UN Public Service Award ausgezeichnet wurde.

Hinter all dem steht nun endlich das generelle, überparteiliche Bekenntnis, dass Integration von Menschen mit Flucht- und Migrationshintergrund wichtig ist, staatlich unterstützt und mit entsprechenden Ressourcen ausgestattet werden muss. Und das kommt nicht nur den Neuankommenden aus 2015, sondern auch bereits länger hier lebenden Migranten zu Gute.

Nicht zuletzt sollten all jene, die vor einer Wiederholung des Jahres 2015 warnen, die Perspektive wahren: Damals suchten 88.000 Menschen in Österreich um Asyl an, was in etwa 1% der Gesamtbevölkerung entspricht. Zwar zählt Österreich damit europaweit zu den Top-Aufnahmeländern von Geflüchteten, international schaffen wir es damit aber nicht mal unter „ferner liefen“. 70% aller 2015 geflüchteten Menschen fanden Zuflucht im Nahen und Mittleren Osten und in Afrika, nur 6% in der EU. Die Türkei nahm damals 2,5 Millionen auf, gefolgt von Pakistan mit 1,6 Millionen, Libanon mit 1,1 Millionen und Iran mit knapp 980.000.

Die Aussage der Integrationsministerin, bei der aktuellen Entwicklung in der syrischen Stadt Idlib, wo rund drei Millionen Zivilisten von Vertreibung bedroht sind, seien nun zuallererst die Nachbarländer gefordert, mutet in Anbetracht dieser Größenordnungen fast zynisch an.

Denn für Österreich bietet das Jahr 2015 auch Gelegenheit für eine positive, ermutigende Gegenerzählung, die wie folgt lauten könnte: 2015 konnte unser Land zeigen, was es kann. Wir durften Schutzsuchenden helfen und beweisen, dass die Europäische Menschenrechtskonvention und die Genfer Flüchtlingskonvention mehr wert sind als das Papier, auf dem sie verfasst wurden. Wir haben unsere Verantwortung in einer globalisierten Welt wahrgenommen. Wir haben die Stärke unserer Institutionen, unserer Demokratie und unserer Zivilgesellschaft im Ernstfall erprobt und gesehen, dass sie standhalten. Und genau diese Erfahrung darf sich wiederholen.

 

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