Fördert das Kopftuchverbot die Integration?

Judith Kohlenberger
am 02.12.2019

Muslimische Frauen kommen in der österreichischen Migrationsdebatte kaum vor, außer es geht um ein Thema: das Kopftuch. Nach dem Kopftuchverbot für Kindergärten wurde dieses im Mai 2019 auch für Volksschulen beschlossen, die ÖVP will es auf Mädchen bis 14 Jahre sowie Lehrerinnen an öffentlichen Schulen ausdehnen. Die Grünen haben sich immer gegen ein solches Verbot ausgesprochen und sehen darin eine Zwangsmaßnahme, die die Lebensrealität muslimischer Mädchen nicht verbessere. Hitzige Auseinandersetzungen im Verhandlungsteam sind also programmiert, spiegeln sie doch eine breitere Debatte wieder: In etwa einem Drittel aller europäischen Länder sind Kopfverhüllungen in der einen oder anderen Form verboten oder zumindest eingeschränkt, vor allem in öffentlichen Institutionen und im Staatsdienst.

Dabei ist der „Kopftuchstreit“ häufig eine Stellvertreterdebatte, in der religiöse, feministische und staatspolitische Argumente einander gegenüberstehen. Auf der einen Seite steht die Religionsfreiheit der Einzelnen, auf der anderen Seite das (religiöse) Neutralitätsgebot des Staates. Die einen werten das Kopftuch als Symbol der Unterdrückung der Frau, die anderen sehen ebendiese im Verbot verwirklicht. Für die einen wird dadurch die Wahrung der verfassungsrechtlichen Grundwerte, nicht zuletzt die Gleichstellung der Geschlechter, sichergestellt, die anderen sehen sie erst recht dadurch gefährdet. Unter der vergangenen türkis-blauen Regierung wurde das Kopftuchverbot explizit als „Integrationsmaßnahme“ proklamiert, welches laut Gesetzestext „der sozialen Integration von Kindern gemäß den lokalen Gebräuchen und Sitten“ diene und vor allem dem Schutz muslimischer Mädchen zugute käme. Rein empirisch ist dieses Argument aber schwer haltbar.

Während es zu den messbaren Effekten des Kopftuchverbots auf den strukturellen Integrationserfolg bis dato wenig wissenschaftliche Evidenz gibt, so legen verfügbare Studien doch nahe, dass es die Inklusion muslimischer Mädchen und Frauen nicht fördert, sondern eher das Gegenteil bewirkt. In Frankreich etwa, wo das Kopftuch an öffentlichen Schulen seit 2004 verboten ist, zeigt eine Langzeitstudie der University of Stanford, dass sich der Bildungs- und Erwerbserfolg muslimischer Mädchen durch das Verbot verschlechtert hat.

Ihre Schulabbruchsquote verzeichnete zwischen den Jahren 2003/4 (vor dem Verbot) und 2004/5 (nach dem Verbot) einen um 6 Prozentpunkte höheren Anstieg als jene von nicht-muslimischen Schülerinnen. Das hatte auch Auswirkung auf die ökonomische Integration: Die Differenz in den Beschäftigungsquoten muslimischer und nicht-muslimischer Frauen hat sich nach dem Verbot um ein Drittel erhöht. Zusätzlich waren muslimische Frauen nach der Einführung des Verbotes weniger unabhängig: Im Schnitt hatten sie mehr Kinder und lebten häufiger mit ihren Eltern zusammen. Der Bildungs- und Erwerbserfolg muslimischer Männer wurde durch das Kopftuchverbot und die begleitende öffentliche Debatte aber kaum nachhaltig beeinträchtigt.

Erklären lässt sich das durch die wahrgenommene Diskriminierung. Da das Kopftuchverbot nur auf die Gruppe der muslimischen Mädchen abzielt, fühlten sich diese als besonders „fremd“ und „anders“ markiert. Nach dem Kopftuchverbot gaben muslimische Mädchen in Sozialerhebungen wesentlich häufiger an, Rassismus in der Schule erlebt und weniger Vertrauen in das Bildungssystem zu haben als vor dem Verbot. Viele nahmen ihre nationale Identität zunehmend als unvereinbar mit ihrer religiösen wahr und entschieden sich häufig für letztere.

Das Kopftuchverbot suggeriere ihnen: Nur wer säkular ist, könne auch französisch sein. Jene Mädchen, für die das keine Option darstellte, zogen sich als Konsequenz stärker in die religiöse Gemeinschaft zurück, was wiederum negativ auf ihre Erwerbstätigkeit und Bildungsmobilität wirkte. Zusammenfassend hat das Kopftuchverbot also zwar einen kurzfristigen „Integrationseffekt“, indem es zu keinen sichtbaren Kopftücher an Schulen führt. Mittel- und langfristig kann es aber eine stärkere Segregation im Bildungssystem und am Arbeitsmarkt bedingen, die besonders muslimische Mädchen betrifft.

Dabei zeigen aktuelle Fallstudien auch, dass das Tragen des Kopftuchs, gerade wie es von jungen Frauen praktiziert wird, nicht in ein binäres Entweder-Oder einzuordnen ist: Genauso wie Menschen mit Migrationshintergrund ihre nationale Identität als hybrid und mehrdimensional, mit Platz für die Herkunfts- und die Aufnahmekultur, wahrnehmen, ist auch Religiosität immer kontextabhängig und Teil eines Ausverhandlungsprozesses. So legen manche kopftuchtragende Frauen dieses (auch ohne dienstliche Bekleidungsvorschrift) in der Arbeit ab, setzen es aber am Weg dahin und nachhause, bzw. generell in der Öffentlichkeit, wieder auf.

Das zeigt einerseits, dass Arbeitsstelle und KollegInnen als „sicherer“ Raum wahrgenommen werden, der ein Ablegen des Kopftuches erlaubt. Andererseits wird dadurch die eigene professionelle Identität bewusst von der religiösen getrennt, während sie in anderen Kontexten durch das Tragen des Kopftuchs wieder stärker betont werden soll. Genauso wenig wie Religion und nationale Zugehörigkeit absolut gelten, kann die Entscheidung für oder gegen das Kopftuch als Ausdruck einer ständigen, bewussten Standortbestimmung, als „aktive Inbesitznahme kultureller Symbole durch die Frauen“ gewertet werden, wie es Birgit Rommelspacher in Anlehnung an die türkisch-französische Soziologin Nilüfer Göle bezeichnet.

Denn zwischen Anpassung an die eine Kultur und Unterdrückung durch die andere liegt eine ganze Welt an individuellen Möglichkeiten, Entscheidungen und Handlungsspielräumen, die gerade eine vermeintlich aufgeklärte Gesellschaft jungen Musliminnen zugestehen sollte.

 

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