Die männliche Norm

Laura Wiesböck
am 04.11.2019

Gegenüber FeministInnen wird von rechtspopulistischer Seite häufig der Vorwurf erhoben, sie würden „Gleichmacherei” betreiben. Ein verzweifelter und inhaltsleerer Versuch, feministische Anliegen zu diskreditieren. Denn das Gegenteil ist der Fall: Genau weil es unterschiedliche Voraussetzungen zwischen den Geschlechtern gibt, ist die Forderung diese gesellschaftlich als gleichwertig zu berücksichtigen. Das ist aktuell nicht der Fall. Die gesellschaftliche Norm ist männlich – und alles andere eine Abweichung.

Das sehen wir deutlich im Bereich Arbeitsmarkt. Am AMS-Algorithmus lässt sich beispielhaft erkennen, was als Norm und was als Abweichung gilt. Das veröffentlichte Modell verdeutlicht, dass es alleine fürs Frausein Punkteabzüge gibt. Am Arbeitsmarkt ist das weibliche Geschlecht offiziell eine nachteilige Abweichung von der männlichen Norm. In der Gruppe der 30-40jährigen zeigt sich das besonders paradox. So werden Männer für Stellen häufig bevorzugt, da die “Ausfallswahrscheinlichkeit” geringer ist. Das ist nicht nur diskriminierend, sondern auch langfristig-ökonomisch betrachtet sinnwidrig. Denn Frauen, die in Karenz gehen, werden auf lange Sicht keine großen Arbeitsmarktrisiken eingehen und wieder in dieselbe Organisation zurückkehren, während kinderlose Männer tendenziell häufiger den Arbeitsplatz wechseln, um einen höheren Lohn zu erzielen.

Besonders verheerende Auswirkungen können wir im Bereich Medizin erkennen. Häufig liest man, dass Frauen, im Gegensatz zu Männern, keine herzinfarkttypischen Symptome aufweisen. Das liegt allerdings ausschließlich daran, dass die Symptome eines Herzinfarkts bei Frauen, also bei 50 Prozent der Bevölkerung, als „atypisch“ bezeichnet werden. Im Gegensatz dazu werden Männer zum Standard erhoben und erleiden „typische“ Herzinfarktsymptome. Diese Kategorisierung ist für Frauen lebensbedrohlich. Die Forschung zeigt: Nach einem Herzinfarkt sterben Frauen immer noch häufiger als Männer. Ihre Chance zu überleben hängt im Übrigen davon ab, von wem sie behandelt werden. Bei Ärztinnen überleben Patientinnen eher, bei Ärzten versterben sie häufiger.

Zusätzlich zur Erhebung des männlichen Körpers zur Norm, wird Frauen medizinisch auch mehr Belastung zugemutet als Männern. Eine hormonelle Verhütungsmethode für Männer mit 96 Prozent Zuverlässigkeit wurde kürzlich im klinischen Versuch vorzeitig beendet wegen Nebenwirkungen wie Stimmungsveränderungen, Akne, Schmerzen durch die Injektion, depressive Episoden und Veränderungen der Libido. Nebenwirkungen wie diese – und darüber hinaus – stehen an der Tagesordnung für Frauen, die hormonell verhüten. Auf eine gleichartige Problematisierung aus medizinischer Sicht lässt sich vergeblich warten.

Auch im Bereich Sexualität liegt der Fokus auf dem männlichen Geschlecht. Es gibt einen so genannten „orgasm gap“ zwischen heterosexuellen Männern und Frauen. Frauen erreichen weitaus weniger den Höhepunkt, als ihre männlichen Partner und als Männer generell. Lesbische Frauen kommen im Vergleich zu heterosexuellen Frauen häufiger zum Orgasmus, das wurde anhand einer Vielzahl von Studien gezeigt. Frauen tun sich also nicht per se schwer zum Höhepunkt zu kommen, sondern überwiegend im Zusammenspiel mit dem männlichen Geschlecht. Laut WissenschafterInnen ist die Fixierung auf männliche Bedürfnisse ein zentraler Faktor, der heterosexuelle Frauen am eigenen Orgasmus hindert.

Der „orgasm gap“ ist demnach auf „phallocentric imperatives“ zurückzuführen, nicht darauf, dass der weibliche Orgasmus per se „mystisch“ ist. Gemäß den vorherrschenden Bildern bestimmt der Höhepunkt des Mannes das Ende des heterosexuellen Geschlechtsakts. Der Orgasmus der Frau spielt eine stark untergeordnete Rolle, wenn überhaupt. Im Schulunterricht wird er kaum thematisiert, da bei der Sexualkunde im Fach Biologie die Fortpflanzung im Vordergrund steht. Um Kinder zu zeugen braucht es keinen weiblichen Orgasmus, wohl aber einen Samenerguss. Aber selbst in dominanten pornographischen Darstellungen, die sich rein um den Lustgewinn drehen, liegt das Hauptaugenmerkt auf dem Höhepunkt des Mannes. Mit dem „cumshot“, also der männlichen Ejakulation, endet der Beischlaf und Pornoclip. Ob die Frau die Intensität ihrer Lustgefühle ausleben konnte und erfüllt und befriedigt aus dem Liebesakt herausgehen kann, ist nicht von Relevanz. Hingearbeitet wird einzig auf die Samenentleerung – so demonstrieren es die Bilder, so leben es viele junge Frauen und Männer nach.

Die Liste an weiteren Beispielen, in denen sich die Ausrichtung an der männlichen Norm zeigt, ist unendlich – von Gesichtserkennungstechnologien bei selbstfahrenden Autos bis hin zur deutschen Sprache. Nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche sind durchtränkt von der Orientierung am männlichen Geschlecht. Die darauf aufbauende feministische Forderung lautet nicht Gleichmacherei, sondern Menschen in ihren Unterschieden gleichwertig zu berücksichten. Um Chancengleichheit und Gleichberechtigung zu forcieren, müssen Frauen gesellschaftlich endlich als gleichwertig berücksichtigt werden – und nicht als nachteilige Abweichung von der männlichen Norm.

 

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