Uns fehlen 1,2 Millionen Wähler

Judith Kohlenberger
am 02.09.2019

Österreich ist ein Einwanderungsland und hat dennoch eines der restriktivsten Einbürgerungsgesetze weltweit. Die hohen Hürden zur Erlangung der Staatsbürgerschaft und die zunehmend restriktive Vergabe von Doppelstaatsbürgerschaften haben zur Folge, dass in Wien mittlerweile fast jede/r Dritte im wahlfähigen Alter nicht wahlberechtigt ist. In Österreich sind es insgesamt knapp 1,2 Millionen Menschen. Das ist einerseits ein demokratiepolitisches Problem und stellt uns vor die Frage, wie repräsentativ unsere Wahlen überhaupt noch sind. Es ist aber auch ein integrationspolitisches Thema. Provokant könnte man formulieren: Genau diejenigen, für die Integrationspolitik in unserem Land gemacht wird, dürfen nicht darüber mitbestimmen – ja haben vielfach nicht einmal die ernstzunehmende Perspektive, es in Zukunft jemals tun zu dürfen.

Dabei stellt, neben der ökonomischen, sozialen und kulturellen Integration, die sogenannte „civic participation“, also die bürgerliche Beteiligung von Migrantinnen und Migranten, eine wesentliche Säule erfolgreicher Inklusion dar. Politische Teilhabe ist eine wesentliche Voraussetzung für die aktive Identifikation mit der neuen Heimat und für ein tatsächliches, auch gefühlsmäßiges Ankommen. Wer in einem Land lebt, arbeitet und Steuern zahlt –  und das tun im Grunde alle hier lebenden Menschen allein durch die Mehrwertsteuer –, aber von demokratischer Beteiligung ausgeschlossen ist, wird sich auch nach Jahrzehnten des Aufenthalts schwertun, sich vollständig mit dem Gastland identifizieren. Es bleibt dann eben genau das: ein Gastland, aber nicht die neue oder die zweite Heimat. Denn warum sollte sich jemand politisch engagieren, kritische Berichterstattung verfolgen, aktiv am innenpolitischen Geschehen teilnehmen, wenn er oder sie hier ohnehin nicht wählen darf – dafür aber, und das sollte bei Menschen mit nicht-österreichischer Staatsbürgerschaft nicht vergessen werden, weiterhin im Herkunftsland wahlberechtigt ist und sich aufgrund der dortigen Mitbestimmungsrechte zugehörig und zuständig fühlen kann, anders als in Österreich. Die Folgen dessen werden hierzulande vor allem im Zusammenhang mit der türkischen Community immer wieder hitzig diskutiert, etwa im Zuge von Wahlveranstaltungen türkischer Politiker in Wien oder der Pro-Erdogan-Demonstration aus Anlass des gescheiterten Putschversuchs. Im Gegensatz fehlen ernsthafte öffentliche Debatten über die Möglichkeiten hiesiger demokratischer Beteiligung für die türkischstämmige Bevölkerung Wiens.

In einer modernen Einwanderungsgesellschaft darüber zu diskutieren, wer denn nun das „Volk“ sei, von welchem laut Artikel 1 unserer Bundesverfassung das „Recht“ ausgeht, wäre aber dringend angezeigt. Das geht über die Frage nach der rein politisch-rechtlichen Zugehörigkeit zu diesem Volk, welche der Politologe Gerd Valchars hier exzellent zusammenfasst, hinaus: Über die Politik, die alle unsere Lebensbereiche durchdringt, mitbestimmen zu dürfen, stärkt das Gefühl von Zugehörigkeit, Selbstwirksamkeit und Verantwortlichkeit für das Gemeinwesen, weil man es eben mitgestalten darf und kann. Besonders bedeutend ist das für Jugendliche und junge Erwachsene, die in Österreich geboren und aufgewachsen sind, aber aufgrund der Migrationsgeschichte ihrer Eltern keine österreichischen Staatsbürger sind – aber eben auch keine „Ausländer“. In der Schule lernen sie politische Bildung und das Wahlsystem kennen, doch es bleibt graue Theorie, weil sie nicht wählen dürfen, und auch oft in der gesamten Familie nie miterleben durften, dass Menschen am Sonntag zur Wahlurne schreiten. Demokratie kann man aber nicht passiv lernen, sondern muss man erleben und erfahren – genauso wie die viel zitierten „Werte“, die gerade in der Integrationsdebatte gerne bemüht werden: Die sozialwissenschaftliche Werteforschung zeigt deutlich, dass Werte am Ende eines komplexen Reflektions- und Verhandlungsprozesses stehen und somit einer hohen Variabilität und Subjektivität unterworfen sind. Aus dieser Perspektive kann man sie „nur bedingt lehren, wie Fakten, oder wie Wissen vermitteln, insofern Werte selbst erfahren und laufend gebildet werden“. Das gilt auch für die demokratische Werte wie Rechtsstaatlichkeit, Mehrheits- und Konsensprinzip oder Minderheitenschutz. Wählen zu dürfen heißt auch, sich mit diesen Werten zumindest rudimentär beschäftigen zu müssen und zu eigen machen zu können.

In den Wahlprogrammen für die kommende Nationalratswahl finden sich kaum explizite Konzepte für die politische Partizipation von Menschen mit Migrationshintergrund. Während in der FPÖ ein Wahlrecht für nicht-österreichische Staatsbürger als „nicht verhandelbar“ gilt, spricht sich die ÖVP gegen Doppelstaatsbürgerschaften aus und fordert finanzielle Strafen für all jene, die illegal eine solche besitzen. Vielleicht liegt diese deutliche Ablehnung der demokratischen Beteiligung von Menschen ohne österreichische Staatsbürgerschaft auch in der Furcht vor den möglichen Auswirkungen auf politische Inhalte begründet: Migrantinnen und Migranten wären eine ernstzunehmende Wählergruppe, um die Parteien werben müssten und wollten. Das hätte zumindest mittel- und langfristig auch einen Effekt darauf, welche Art von Migrations- und Integrationspolitik betrieben und wie im politischen Diskurs über nicht-österreichische Staatsbürger gesprochen wird. Eine große potentielle Wähler grenzt man schon allein aus politischen Kalkül nicht einfach aus.

 

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