Tragen Seenotrettungen zum Sterben im Mittelmeer bei?

Judith Kohlenberger
am 12.07.2019

Als der italienische Innenminister Matteo Salvini im Mai dieses Jahres ein neues Sicherheitsdekret einführte, übertrug er die Kompetenzen für die zivile Schifffahrt bewusst in seinen eigenen Verantwortungsbereich. Damit wurde es möglich, die Durchfahrt und/oder das Anlegen von Schiffen in italienischen Gewässern „aus Gründen der nationalen Sicherheit“ zu verbieten. Teil des Pakets waren drakonische Strafandrohungen für jene NGOs, die sich dem Dekret widersetzen und gerettete Flüchtlinge nach Italien bringen: Ihnen drohen zwischen € 3.500 und € 5.000 Geldstrafe für jeden Migranten, der ohne Genehmigung von Bord geht.

Argumentiert werden diese massiven Sanktionen damit, das internationale Schlepperwesen bekämpfen zu wollen: Die Praxis der Seenotrettung würde als „Pullfaktor“ für Migranten wirken und damit zu mehr riskanten Überfahrten und, in derselben Logik, zu mehr Toten führen. Im Wissen, notfalls gerettet zu werden, würden immer mehr Menschen den Weg über das Meer wagen. Ein extremes Beispiel für diese Argumentationslinie ist die deutsche AfD, die in der Person ihrer Europaabgeordneten Beatrix von Storch sogar der in ihren Augen zu toleranten Flüchtlingspolitik Angela Merkels und ihrem Ausspruch „Wir schaffen das!“ Mitschuld am Tod all jener Kinder, Frauen und Männern gab, die die Überfahrt über das Mittelmeer nicht überlebten: Durch solche Äußerungen würden Flüchtlinge regelrecht nach Europa und damit in den sicheren Tod „gelockt“.

Empirisch betrachtet ist dieses Argument nicht haltbar: Rezente Studien zu Mortalitätsraten im Mittelmeer zeigen, dass diese nach Beendigung von großangelegten Search-and-Rescue-Missionen (SAR) wie Mare Nostrum im Herbst 2014 gleich blieben oder sogar anstiegen. Das ist selbst dann der Fall, wenn Rettungsmissionen nicht gänzlich abgeschafft, sondern von Frontex übernommen werden. Ein umfangreicher Bericht des Goldsmiths College der University of London widmete sich unlängst der Thematik und macht deutlich, dass große Schiffbrüche wie jene im April 2015, die 400 bzw. 750 Todesopfer forderten, durch ausgedehntere Mandate und besser ausgestattete SAR-Missionen hätten verhindert werden können. Aus einem Mangel an Handlungsalternativen würden Migranten auch nach Beendigung von Mare Nostrum weiterhin die Dienste von Schleppern in Anspruch und die gefährliche Seefahrt auf sich nehmen, so der Bericht.

Gleichzeitig zeigen verfügbare Statistiken von Frontex, IOM und UNHCR, dass auch die Zahl der versuchten Überfahrten durch die Einstellung von SAR-Missionen nicht zurückging. Ganz im Gegenteil lässt sich in vergleichbaren Zeiträumen mit und ohne Mare Nostrum eine Zunahme der ankommenden Migranten beobachten. Ein Grund dafür scheint zu sein, dass Informationen zur Absetzung von Seenotrettungen oder Nachrichten von großen Schiffbrüchen die Migrationswilligen gar nicht erst erreichen. Bedingungen im Herkunftsland und Gewalterfahrungen im Transitland spielen eine wesentlich größere Rolle für die tatsächliche Entscheidung zur Überfahrt, wie eine kürzlich veröffentlichte qualitative Studie unter knapp dreihundert befragten Migranten in Italien, Griechenland, Malta, der Türkei und Deutschland nahe legt.

Ein Grund, warum die Kriminalisierung von Seenotrettungen bisher keinen Effekt auf das Migrationsvolumen nach Europa zeigte, liegt also in der politischen Überbewertung von Pullfaktoren, die eine viel geringere Rolle für Migrationsentscheidungen spielen als eine Reihe anderer Faktoren.

Einerseits sind Migrationsentscheidungen das Resultat eines komplexen Zusammenspiels aus persönlichen Aspirationen und tatsächlichen Kapazitäten, die vielfach von den verfügbaren Ressourcen wie Bildung, Einkommen und Infrastruktur abhängen. Im Einzelfall bedeutet das, dass die Entscheidung für transnationale Migration, darunter auch die Fahrt übers Mittelmeer, wesentlich non-linearer abläuft, als es das gängige Push-Pull-Modell erwarten lässt.

Andererseits sind Migrationsmotivationen sehr unterschiedlich, mitunter überlappend, und können sich während der Migrationserfahrung mehrfach ändern. Es ist bereits zu einem Gemeinplatz geworden, dass die klassische Unterscheidung zwischen „erzwungener“, also unfreiwilliger Migration (vulgo Flucht), und „regulärer“, freiwilliger Migration (vor allem Arbeits- und Familienmigration) in vielen Fällen nicht mehr greift. Zu durchmischt sind die Beweggründe für Migranten aus afrikanischen Ländern, wo eine unsichere politische Lage mit ökonomischen und sozialen Herausforderungen einhergeht. Auch während der Reise kann eine Migration aus primär wirtschaftlichen Gründen durch Erfahrungen von Gewalt, Folter und Kriminalität in eine Flucht umschlagen: Erhebungen in Libyen legen nahe, dass Migranten, die in menschenunwürdigen Lagern um ihr Leben fürchten müssen, trotz aller Risiken so schnell wie möglich die Chance ergreifen, nach Europa gelangen – selbst wenn dies bedeutet, die potentiell todesbringende Überfahrt über das Mittelmeer auf sich zu nehmen.

Die Kriminalisierung von Seenotrettungen hat also tödliche Folgen, aber nachweislich nur geringe Auswirkungen auf das tatsächliche Migrationsaufkommen. Was es braucht, ist eine fundamentale Re-Orientierung, weg von einer Politik der Repression hin zu legalen, kontrollierten und sicheren Migrationswegen, die sowohl Schlepperei als auch Seenotrettungen obsolet machen würden. Dazu kann die Lockerung von Visabestimmungen genauso beitragen wie ambitionierte Resettlement-Programme, aber auch die Abschaffung von sogenannten carrier sanctions für Transportunternehmen, die Geflüchteten die Einreise ermöglichen. Das aber würde eine radikale Neu-Priorisierung in der EU-Migrationspolitik bedeuten, die die Rettung von Menschenleben vor Außengrenzschutz, Routenschließung und Bekämpfung der Schlepperkriminalität stellt.

 

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