Mobilität ist eine Verteilungsfrage

Judith Kohlenberger
am 19.06.2019

Der starke Rückgang der Asylantragszahlen in Österreich und anderen europäischen Ländern wird von Politikern unterschiedlicher Parteien gerne stolz verkündet und auf die jeweiligen, meist nationalen Maßnahmen im Bereich der Migrations- und Asylgesetzgebung zurückgeführt. Diese Vereinnahmung ist sowohl faktisch als auch moralisch bedenklich. Denn es war mitnichten das viel zitierte Schließen der Balkanroute, sondern vor allem der vom Migrationsexperten Gerald Knaus konzipierte EU-Türkei-Deal, der dazu führte, dass die Zahl der Menschen, die auf dem europäischen Festland einen Asylantrag stellten, rasant und nachhaltig zurückging. Aktuell haben sich Österreichs Asylantragszahlen auf dem Niveau der frühen 2010er-Jahre eingependelt, also vor Ausbruch des Syrienkonflikts.

Trotz Beendigung des Krieges ist, wie für zahlreiche andere globale Krisenherde, keine baldige Befriedung und damit eine Rückkehr der Vertriebenen in Sicht. Und genau das blendet die frohe Botschaft der sinkenden Asylantragszahlen aus: Was passiert mit all jenen Frauen, Männern und Kindern, die weiterhin ihre Heimat verlassen müssen, aber eben nicht mehr den Weg nach Europa finden? Was haben wir getan, damit ihre Herkunftsländer nachhaltig stabil werden, sowohl politisch als auch ökonomisch? Und welche alternativen, legalen und sicheren Fluchtrouten haben wir geschaffen?

Denn Migration muss nicht mit Unsicherheit, Zwang und einem prekären legalen Status verbunden sein. Europäer können visafrei in viele Länder reisen und haben sich rasch an das Privileg der Personenfreizügigkeit im Schengenraum gewöhnt. In den USA wird lebenslange Sesshaftigkeit als Scheitern wahrgenommen, nur wenige bleiben dem Bundesstaat, in dem sie geboren wurden, treu – wer erfolgreich ist, ist mobil. Laut dem US Census Bureau zieht der durchschnittliche US-Amerikaner knapp zwölf Mal im Leben um. Auch das Phänomen der „Expats“, also westliche, hochqualifizierte und in der Regel weiße Arbeitsmigranten, die in internationalen Organisationen und globalen Unternehmen arbeiten, zeigt, dass Mobilität und Migration durchaus positiv konnotiert, ja regelrecht fetischisiert sind, solange sie mit dem entsprechenden sozialen und rechtlichen Status einhergehen.

Tatsächlich nimmt transnationale Mobilität exponentiell zu: Jährlich werden knapp drei Milliarden Grenzüberschreitungen (sogenannte „cross-border trips“) registriert, der Großteil davon legal und im Rahmen temporärer Reisetätigkeit für Beruf oder Freizeit. Während anerkannte Flüchtlinge und Asylwerbende mit rund 0,5 Prozent nur einen kleinen Teil dieser Grenzüberschreitungen ausmachen, stellen Touristen knapp ein Viertel. Gleichzeitig fristen Millionen Vertriebene in Flüchtlingslagern ihr Dasein. Schätzungen der UNHCR zufolge sind rund 40 Prozent aller Geflüchteten in Camps untergebracht, in ländlichen Gegenden sogar um die 80 Prozent. Die Mehrheit dieser Camps befindet sich in den einkommensschwächsten Ländern der Welt, darunter Bangladesch, Uganda, Kenia und Jordanien. Mangelnde Ressourcen, anhaltende Instabilität und fehlende legale Fluchtmöglichkeiten verhindern sowohl Weiterreise als auch Rückkehr ins Heimatland. Denn entgegen regelmäßigen Berichten eines „continent on the move“ gehören afrikanische Länder zu den immobilsten Regionen der Welt: In absoluten Zahlen ist die transnationale Mobilität in Europa zwanzigmal höher als in Afrika, trotz der wesentlich größeren Bevölkerung des südlichen Kontinents.

Diese globale Ungleichheit der Mobilität hat weitreichende Folgen. Die Forschung zeigt, dass Mobilität die eigenen Überlebenschancen erhöht sowie Weltanschauungen und wirtschaftliche Kooperation mit anderen Ländern positiv beeinflusst. In Zeiten der drohenden Klimakatastrophe und dem verbundenen Energie- und Ressourcenaufwand wird Mobilität zusehends zu einer Verteilungsfrage – von Kapital, Wohlstand und Bildung, aber auch von (Il)legitimität. Je mehr Ressourcen Menschen haben, desto mobiler sind sie. Das schließt persönliche Ressourcen wie (Human)kapital und soziale Netzwerke genauso ein wie strukturelle Bedingungen, darunter Infrastruktur und Transportmöglichkeiten. Nicht zuletzt erweitert der Zugang zu Bildung und Medien den Horizont und die Vorstellung dessen, was ein „gutes Leben“ sein kann.

Demgegenüber steht eine zunehmend restriktivere Einwanderungspolitik, etwa in den USA oder jüngst durch das neue Migrationspaket in Deutschland. In beiden Fällen können Verschärfungen im Asyl- und Migrationsbereich zu unerwünschten Nebenwirkungen führen, wie historische Beispiele zeigen. Einerseits werden Migranten durch das Erschweren bzw. Verunmöglichen legaler Einreise dazu verleitet, andere, häufig gefährlichere Routen zu wählen – von Zweckehen bis hin zu Schlepperdiensten. Andererseits wird zirkuläre Migration, also die Rückkehr von Einwanderern nach einigen Jahren der Erwerbstätigkeit im Zielland, weitaus weniger attraktiv. Je strenger die Einwanderungsgesetze, desto mehr steht bei einer freiwilligen Rückkehr auf dem Spiel, könnte es doch bedeuten, den wertvollen und hart erkämpften Aufenthaltsstatus zu riskieren und dann nicht mehr rückeinreisen zu dürfen. Beobachten konnte man diesen Effekt anhand mexikanischer Einwanderer in den USA, aber auch am Beispiel marokkanischer Saison- und Gastarbeiter, die bis 1991 visafrei nach Spanien einwandern durften. Als mit dem Schengener Abkommen Visabestimmungen eingeführt wurden, stiegen sowohl die Zahl der irregulären Ankünfte als auch die permanenten Niederlassungen von Marokkanern signifikant an. Je strenger die Einwanderungspolitik eines Landes, desto eher wollen Migranten für immer bleiben.

Ist Mobilität dagegen frei oder kaum beschränkt, so findet sie eher zirkulär und zeitlich begrenzt statt, wie Migrationsbewegungen innerhalb Europas verdeutlichen. Und genau hier zeigt sich die Stärke eines Verständnisses von Mobilität als Voraussetzung für globale gesellschaftliche Teilhabe und damit als menschliches Grundrecht: Migration und Mobilität waren und sind konstante Faktoren unserer Entwicklungsgeschichte und zentrale Elemente dessen, was unsere menschliche Erfahrung im Wesen ausmacht. Anstatt Migration „lösen“ oder „auf Null“ bringen zu wollen, sollten wir uns angesichts aktueller und kommender Herausforderungen viel eher die Frage stellen, wie transnationale, legale und sichere Mobilität gerecht verteilt werden kann. Denn eine zukunftsgerichtete, global gerechte Migrationspolitik ist in ihrem Kern Verteilungspolitik.

 

 

 

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