„Hilfe vor Ort“ alleine löst die Migrationsfrage nicht

Judith Kohlenberger
am 03.06.2019

In den zahllosen EU-Wahldebatten haben nicht nur unsere österreichischen Kandidaten wiederholt auf die von ihnen angestrebte „Bekämpfung von Fluchtursachen“ hingewiesen, die durch „Hilfe vor Ort“ gelingen soll. Wie diese Hilfe genau gestaltet sein kann, wird in weiterer Folge selten konkretisiert. Einig scheint man sich nur zu sein, dass die ökonomische Entwicklung der für die EU wichtigsten Herkunftsländer eine wesentliche Voraussetzung für das Abflauen irregulärer Migration nach Europa darstellt. Dementsprechend wird das Budget für europäische Entwicklungszusammenarbeit vorrangig mit Verweis auf die zu erwartenden Migrationsströme diskutiert. „Hilfe vor Ort“ ist in diesem Sinne nicht primär als humanitäres Unterfangen oder ethische Verpflichtung codiert, sondern als essentieller Hebel, um den Migrationsdruck in Ländern südlich der Sahara, im Nahen und Mittleren Osten und in Südasien nachhaltig zu senken.*

Während internationale Beiträge zur Stabilität des globalen wirtschaftlichen und sozialen Gefüges zu begrüßen sind, muss eine ehrliche Debatte auch thematisieren, dass ökonomische Entwicklung nicht zwingend mit dem Rückgang von Migration einhergeht. Inzwischen lässt sich fundiert belegen, dass wirtschaftliche Entwicklung tendenziell zu einer Erhöhung der Abwanderungsneigung führt, wie der niederländische Soziologe und Migrationsforscher Hein des Haas in einer kürzlich veröffentlichten Studie belegt: Basierend auf dem Human Development Index (HDI) der Vereinten Nationen zeigt sein Modell, dass Länder mit einem mittleren HDI, wie z.B. Mexiko, Marokko, Türkei und die Philippinen, den höchsten Anteil an Emigranten aufweisen, während ärmere, weniger entwickelte Länder in Subsahara-Afrika derzeit nur wenig transnationale Migration verzeichnen.

Das hängt damit zusammen, dass Migrationsentscheidungen ein komplexes Zusammenspiel aus persönlichen Aspirationen und tatsächlichen Möglichkeiten sind, und im konkreten Fall oft wesentlich weniger geradlinig ablaufen, als es das neoklassische Push-Pull-Modell erwarten lässt. Während laut einer Studie der OECD rund ein Drittel der Bevölkerung in Subsahara-Afrika hypothetische Migrationswünsche äußert, trifft nur ein Prozent davon konkrete Vorbereitungen, um diese in die Tat umzusetzen. Zwei Jahre später liegt der Emigrationsanteil in den betroffenen Ländern bei unter fünf Prozent. Dieser „aspiration-capability gap“, also die Lücke zwischen dem abstrakten Migrationswunsch auf der einen Seite und der tatsächlich realisierten Migrationsentscheidung auf der anderen, hängt mit den verfügbaren Ressourcen zusammen:  Menschen in den ärmsten Regionen der Welt können sich das Auswandern, vor allem über weite Distanzen und transkontinental, schlicht nicht leisten. Durch Industrialisierung und Entwicklung steigt der Migrationsdruck, weil dadurch mehr Menschen über finanzielle Mittel, soziale Netzwerke, Transportmöglichkeiten und das nötige Wissen zur Planung und Durchführung ihrer Emigration verfügen – kurz gesagt, mobiler werden. Zugang zu Bildung und internationalen Medien tragen außerdem dazu bei, dass sich der eigene Horizont erweitert und neue Vorstellungen dessen, wie ein gutes Leben in anderen Teilen der Welt aussehen kann, geprägt werden.

Die Beziehung zwischen der ökonomischen Entwicklung eines Landes und seinen Emigrationszahlen ist also nicht linear, sondern verläuft U-förmig: Jede Form von Entwicklung in den einkommensschwächsten Ländern der Welt führt zuerst zu mehr Migration, bevor diese wieder sinkt, wenn der Ausbau von Infrastruktur und bessere Lebensbedingungen dazu führen, dass sich mehr Menschen eine sichere Zukunft im eigenen Land vorstellen können. Diesem grundlegenden Zusammenhang lässt sich nur bedingt durch zielgerichtete Entwicklungszusammenarbeit oder Modelle der zirkulären Migration entgegensteuern. Vielmehr müsste man dazu übergehen, Migration als „integral part of broader processes of development and social and economic change” zu sehen, wie es Hein de Haas formuliert.

Genau daran scheitern aber aktuelle politische Bekenntnisse zur Aufstockung der „Hilfe vor Ort“, liegt ihnen doch ein problematisches und empirisch fehlerhaftes Verständnis von Migration zu Grunde: Transnationale Wanderbewegungen werden schlicht als Folge des ökonomischen Ungleichgewichts zwischen dem reichen Norden und dem ärmeren Süden gesehen, einem sogenannten „development disequilibrium“ (Entwicklungsungleichgewicht) zwischen Herkunfts- und Zielländern. Durch zunehmende wirtschaftliche Konvergenz, hergestellt durch Entwicklungszusammenarbeit und fortschreitende Industrialisierung, lasse sich Migration entsprechend senken oder, als erklärtes Endziel, komplett unterbinden.

Ein solches Modell versteht Migration als rein negative Konsequenz des globalen Kapitalismus, welche es auszumerzen gilt. Tatsächlich zeigt aber die historische Entwicklung, dass Migration und Mobilität konstante Faktoren der menschlichen Entwicklungsgeschichte sind und zentrale Elemente dessen, was uns in unserer menschlichen Erfahrung ausmacht. Migration „gegen Null“ bringen zu wollen, wie von Politikern unterschiedlicher Couleur proklamiert, ist nicht nur faktisch unmöglich, sondern bereits in seiner Zielsetzung zu hinterfragen: Migration ist eben kein Problem, welches es zu lösen gilt, sondern war von Beginn der Menschheit an eine Quelle der sozialen und ökonomischen Entwicklung, der Kreativität und Kulturschaffung.

 

Weitere Ausgaben:
Alle Artikel des FALTER THINK-TANK finden Sie in der Übersicht.

12 Wochen FALTER um 2,50 € pro Ausgabe
Kritischer und unabhängiger Journalismus kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit einem Abonnement!