Wie steht es um die seelische Gesundheit der 2015 Geflüchteten?

Judith Kohlenberger
am 29.04.2019

In einer neuen Studie bin ich gemeinsam mit Kollegen der ÖAW und des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche einer bislang kaum diskutierten Frage nachgegangen: Wie steht es um die seelische Gesundheit von Geflüchteten des Herbsts 2015? Denn psychische Störungen haben nicht nur Auswirkungen auf den Spracherwerb und das Alltagsleben der Betroffenen, sondern können ein wesentliches Integrationshemmnis darstellen.

Im Rahmen der Studie Refugee Health and Integration Survey (ReHIS) wurden bundesweit mehr als 500 syrische, irakische und afghanische Asylberechtigte zu ihrer körperlichen und seelischen Gesundheit befragt. In telefonischen Interviews auf Arabisch, Farsi und Paschto gaben uns jene Menschen, die im Zuge der großen Fluchtbewegung 2015 nach Österreich gekommen waren, Auskunft über ihr Wohlbefinden, ihre Gesundheitsbedürfnisse sowie mögliche Barrieren, die sie beim Zugang zum Gesundheitssystem erfahren haben. Meine Kollegen und ich wendeten dabei gängige klinische Screening Instrumente an, wie sie beispielsweise in Flüchtlingslagern oder Erstaufnahmezentren Einsatz finden. Informationen zu konkreten traumatischen Ereignissen vor und während der Flucht, darunter Gewalterfahrungen und körperliche Entbehrungen, haben wir aus forschungsethischen Gründen nicht erhoben. Vor kurzem wurden nun unsere Studienergebnisse in der Fachzeitschrift Health Policy veröffentlichtet.

Wenig überraschend zeigte sich anhand unserer Daten deutlich, dass der Bedarf an Psychotherapie bei Geflüchteten ungleich höher ist als unter der einheimischen Bevölkerung. Insbesondere Jugendliche und junge Erwachsene im Alter von 15-24 Jahren sind stark belastet. Die Prävalenz mittelgradiger und schwerer Angststörungen und Depressionen ist unter Geflüchteten etwa doppelt so hoch wie unter ÖsterreicherInnen: 21% der befragten Frauen und 10% der Männer zeigten zumindest eine der beiden Störungen (oder beide) in mittelgradiger oder schwerer Ausprägung. Während laut der Österreichischen Gesundheitsbefragung ATHIS 5% der österreichischen Frauen mittelgradig oder schwer depressiv belastet sind, ist der Wert bei geflüchteten Frauen mehr als doppelt so hoch (11%). Zusätzlich gab fast ein Drittel der Geflüchteten an, in den letzten zwei Wochen regelmäßig Alpträume gehabt zu haben, ein häufiges Symptom von unverarbeitetem Stress. Ab einer mittelgradigen Depression wird für gewöhnlich eine Psychotherapie empfohlen, bei schwereren Störungen meistens in Kombination mit Antidepressiva.

Doch genau hier verortet unsere Studie starken Nachholbedarf: Trotz ihrer deutlich höheren psychischen Belastung nahmen Geflüchtete psychotherapeutische Leistungen nur etwa gleich oft in Anspruch wie die einheimische Bevölkerung. Während 13% der geflüchteten Frauen und 5% der Männer in den letzten zwölf Monaten einen Psychiater oder Psychotherapeuten besuchten, waren es unter der österreichischen Wohnbevölkerung 10% bzw. 6%. Das weist auf einen ungedeckten Therapiebedarf hin, der u.a. auf strukturelle Barrieren zurückzuführen ist. Dazu zählen neben den erwarteten Sprachbarrieren auch mangelnde Erreichbarkeit und unzureichendes Angebot, was lange Wartelisten zur Folge hat.

Letzteres wird von Gesundheitsdienstleistern bestätigt: Die durchschnittliche Wartezeit für gedolmetschte Psychotherapie für Erwachsene rangiert in Wien zwischen sechs und zwölf Monaten. Die Ende März im Wiener Gemeinderat beschlossene Erhöhung der Subvention für den Verein Hemayat, der traumatisierte Geflüchtete und Folteropfer betreut, ist dementsprechend begrüßenswert, stellt aber in Anbetracht der Dringlichkeit des Themas kaum mehr als einen Tropfen auf dem heißen Stein dar.

Denn aus internationalen Studien ist bekannt, dass fehlende psychische Gesundheit ein wesentliches Lern- und Integrationshindernis darstellt: Laut einer Stellungnahme der Deutschen Akademie der Wissenschaften Leopoldina kann unbehandeltes seelisches Leid dazu führen, dass Geflüchtete nicht in der Lage sind, eine neue Sprache zu lernen oder kleinste Aufgaben des Alltags zu bewältigen. Deutschkurse, Arbeitstrainings und andere wohlgemeinte Integrationsmaßnahmen führen dann oft ins Leere. Von den vielen Potentialen und Qualifikationen, die Geflüchtete laut einer Studie des Wittgenstein Centres mitbringen, die aber aufgrund von Traumatisierung und anderen Beeinträchtigungen nicht entsprechend entfaltet werden können, ganz zu schweigen. Durch konstant hohe Belastung und damit verbundene Überforderung wird das seelische Leid der Eltern oft in Form von Ungeduld, Unverständnis oder Gewalt, aber auch durch sogenannte epigenetische Prozesse an Kinder weitergegeben. Zudem können sich psychische Belastungen durch dissoziales und (auto-)aggressives Verhalten äußern.

Hier kann ein Teufelskreis entstehen: Einerseits erschwert das Vorliegen psychischer Symptomatik und damit einhergehendes sozial auffälliges Verhalten die erfolgreiche Integration, andererseits weisen sozial isolierte Menschen wiederum ein höheres Risiko für Gewaltbereitschaft auf. Unbehandelter psychischer Betreuungsbedarf von geflüchteten Menschen wirkt sich also nicht nur auf die unmittelbar Betroffenen und ihre Familien, sondern auf unser aller Zusammenleben aus, und sollte deshalb ein zentrales Anliegen nationaler Integrationsbemühungen sein.

 

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