Bildung kann die Interpretationshoheit empirischer Evidenz gefährden

Axel Sonntag
am 15.04.2019

Als ich vor einigen Jahren in England lebte und mit großem Genuss Debatten auf BBC Radio 4 verfolgte, wunderte ich mich nicht schlecht, als eine Journalistin einem Politiker sinngemäß entgegenhielt: „Aber was Sie hier vorstellen ist reine Korrelation und beschreibt keinen Kausalzusammenhang“. Der Politiker verstand den Einwand, reagierte sachlich und die Debatte nahm ihren Lauf. Sofort dachte ich: Dürfte ich einen solchen Einwurf auch von österreichischen JournalistInnen erwarten? Wie hätte der/die durchschnittliche österreichische PolitikerIn reagiert? Hätte die Mehrheit der HörerInnen vor den Radiogeräten etwas mit dem Einwand anfangen können? Ich hätte seinerzeit (2014) leider auf keine der Fragen mit einem überzeugten Ja antworten können. Doch hat sich seither so viel geändert? Warum ist die rigorose Unterscheidung von Korrelation und Kausalität aber so zentral, vielleicht sogar für die Zukunft der Demokratie?

Unsere Welt ist komplex und vielfältige Ursache-Wirkungs-Mechanismen in ihr sind es auch. Als Neugeborene wissen wir gar nichts und lernen nach und nach die Regeln und Gesetzmäßigkeiten unserer Welt. Nach einiger Zeit wundern wir uns nicht mehr, das Äpfel vom Baum auf den Boden fallen, dass wir uns den Mund verbrennen, wenn das Essen zu heiß ist oder dass wir höher schaukeln, wenn wir stärker angestoßen werden. Wir verstehen nach und nach Ursache-Wirkungs-Beziehungen.

Das Besondere an solchen Beziehungen ist, dass sie uns helfen, (mentale) Modelle davon zu entwickeln, wie die Welt funktioniert, und Geschehnisse darin auch ein Stück weit vorhersagen zu können. Das Anstoßen der Schaukel und die Höhe, mit der wir schaukeln, treten nicht bloß gleichzeitig auf (sind also nicht bloß korreliert), sondern mehr noch, hängen kausal zusammen: Es gibt also eine eindeutige Ursache, die eine Wirkung zur Folge hat. Uns allen ist klar, dass die Schaukelhöhe von der Stärke des Anstoßens abhängt und nicht umgekehrt die Stärke des Anstoßens von der Schaukelhöhe. Eh klar. Aber ganz so klar, wie in diesem einfachen Beispiel sind solche Zusammenhänge nicht immer. Insbesondere bewusst oder unbewusst eingesetzte unklare Sprache im (Politik-)Alltag führt dazu, dass oftmals vage Korrelationen als kausale Wirkmuster verkauft werden. Aber die Kritik verstummt. Angesichts der erdrückenden Datenlage waren einige Entscheidungen einfach unausweichlich.

Regierungen vieler Länder heften sich vermehrt an die Fahnen, evidenzbasiert wirken zu wollen. Dass PolitikerInnen dadurch bekunden, tatsächliche Sachverhalte in ihrer Politik zu berücksichtigen ist sehr zu begrüßen, sollte aber gleichzeitig auch nicht als bahnbrechende Sensation überinterpretiert werden. Was sollte man denn sonst tun? Gibt es überhaupt eine Alternative zu evidenzbasierter Politik? Hieße nicht-evidenzbasiert zu regieren nicht realitätsblind zu agieren?

Evidenzbasiert zu regieren bedeutet aber nicht, ideologiefrei zu regieren. Zurecht werden ähnliche Sachverhalte und Problemlagen je nach ideologischer Gesinnung zu unterschiedlichen Lösungsansätze führen. Was bei ernstgemeinter Evidenzgrundierung allerdings links wie rechts außer Streit stehen sollte, ist die Tatsache, dass nicht mehr in Daten hineininterpretiert wird, als diese tatsächlich aussagen können. Das trifft insbesondere auf Aussagen zu, welche kausale Wirkmechanismen proklamieren, diese aber nicht empirisch belegen können. Wenn zwei Größen sich vermeintlich gleich entwickeln (z.B. beide gleichzeitig steigen), also miteinander korreliert sind, so bedeutet das nicht automatisch, dass dem auch ein direkter Ursache-Wirkungsmechanismus zugrunde liegt.

Mit Korrelation und Kausalität verhält es sich wie mit Rechteck und Quadrat: ein Quadrat ist immer ein Rechteck, das heißt ist ein Gegenstand quadratisch ist er zwangsläufig auch rechteckig, eben eine spezielle Ausprägung von rechteckig. Umgekehrt ist aber nicht jedes Rechteck quadratisch. Das ist zwar möglich, aber nicht notwendiger Weise der Fall. Besteht ein kausaler Zusammenhang zwischen zwei Größen, sind diese auch miteinander korreliert. Wenn zwei Größen aber miteinander korreliert sind, heißt das nicht zwangsläufig, dass zwischen ihnen auch ein kausaler Zusammenhang besteht.

Einige Korrelationen sind unverdächtig und völlig harmlos. Bei diesen wäre es recht schwierig, eine Korrelation als kausalen Wirkungsmechanismus zu verkaufen: Badekleidung und Sonnenbrand tritt häufig gleichzeitig auf. Das Tragen von Badekleidung ist aber nicht die Ursache eines Sonnenbrandes. Behauptungen es gäbe einen Zusammenhang wirken intuitiv wenig plausibel. Andere Korrelationen hingegen können sehr plausibel wirken und es drängt sich vielleicht sogar die Intuition auf, es könnte einen kausalen Zusammenhang geben. Diese Zusammenhänge laufen potenziell Gefahr, gezielt in der (politischen) Kommunikation missbräuchlich verwendet zu werden. Gerade jene Zusammenhänge, die zwar plausible kausale Interpretationen ermöglichen, aber keine Evidenz für eben solche sind, müssen unbedingt als das entlarvt und benannt werden, was sie sind: einfache Korrelationen.

Beispiele derartiger Darstellungen von Korrelationen als kausale Einflüsse ziehen sich leider durch die „faktenbasierte“ Kommunikationskultur österreichischer Prägung, wie Löcher durch den Schweizer Käse. Obgleich einige Fälle moralisch schwerer wiegen mögen als andere, sollten wir als StaatsbürgerInnen und SteuerzahlerInnen in jedem Fall ein großes Interesse an einer statistisch redlichen Sprachverwendung haben. Wir sollten Darstellungen, die einen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang suggerieren, stets kritisch hinterfragen! Das gilt für die Frage ob es einen Zusammenhang zwischen Ausländerstatus und Straffälligkeit gibt genauso (siehe dazu den aufklärenden Artikel von Judith Kohlenberger vom 8.4.19), wie für die Fragen ob UniabsolventInnen tatsächlich mehr verdienen als Nicht-AbsolventInnen (z.B. AbsolventInnen-Tracking der Uni Wien) oder wie viel Forschung- und Entwicklung tatsächlich durch hunderten Million Euro schwere Forschungsförderungen angestoßen wurde (z.B. FFG Förderprogramm IKT der Zukunft).

Dabei gilt es, ein grobes Missverständnis auszuräumen: Leider ist der Irrglaube verbreitet, dass Korrelationen „auch zeigen, dass es einen Zusammenhang gibt, aber halt bloß nicht wissenschaftlich 100% genau gemessen.“ Das Problem mit dieser durchaus nachvollziehbaren „genau genug für uns“ Einstellung ist aber, dass sie leider völlig falsch ist und zu gröbsten Fehleinschätzungen und letztlich Fehlentscheidungen führen kann! Korrelationen sind eben keine Evidenz für weniger rigoros gemessene oder nur schwächer ausgeprägte Kausalitätsbeziehungen. Ein bisserl kausal gibt es nicht. Kann man ein bisserl schwanger sein?

Wir brauchen dringend breitenwirksame Bildungsangebote (Pflichtschulen!) zur Steigerung der allgemeinen data literacy, der Fähigkeit, (rudimentär) mit Daten umgehen zu können und empirische Ergebnisse richtig zu deuten. Aber auch PolitikerInnen, JournalistInnen, WissenschaftlerInnen etc. sind in der Pflicht genauer hinzuschauen, und durch korrekte und korrigierende Sprache, Zusammenhänge einfacher verständlich zu machen, anstatt bestehende sprachliche (Un-)Kulturen des Vermengens von Kausal- mit Korrelationsbeziehungen aufrecht zu erhalten. Dies gilt umso mehr, als manche PolitikerInnen sogar ein Interesse daran haben könnten, bewusst Scheinzusammenhänge herzustellen.

Demokratische Politik, die vermehrt empirische Evidenz als Grundlage ihrer Gestaltungsfunktion verwenden möchte, verlangt der WählerInnenschaft ein grundsätzliches Verständnis davon ab, was Daten aussagen können und was nicht. Wenn eine Gesellschaft nicht dazu in der Lage ist, Scheinevidenz von echten Kausalzusammenhängen zu unterscheiden, kann das in einer immer stärker datengetriebenen Welt über kurz oder lang auch zu problematischen demokratiepolitischen Spannungen führen.

 

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