Ausländer in der Kriminalstatistik: Integration gescheitert?

Judith Kohlenberger
am 08.04.2019

Kaum ein Thema wird so regelmäßig und kontrovers diskutiert wie jenes der Ausländerkriminalität. Im Zuge der traurigen Mordserie an Frauen zu Beginn des Jahres veröffentlichte auch der Falter eine Grafik, die nahelegt, dass ausländische Täter bei Gewaltdelikten überrepräsentiert seien. Beweist die Kriminalstatistik also, dass Asylwerbende und andere Fremde krimineller und gewaltbereiter sind als Österreicher? Ist die Integration in unserem Land gescheitert?

Nachdem das Bevölkerungswachstum in Österreich fast ausschließlich durch Migration passiert, steigt der Anteil der ausländischen Täter an der Gesamtkriminalität schon allein deshalb: So hat sich zwischen 2002 und 2016 die absolute Zahl der ausländischen Tatverdächtigen de facto verdoppelt, ihr Anteil an allen verdächtigen Personen ist auf 39 Prozent gestiegen, bei rund 15 Prozent Ausländeranteil in Gesamtösterreich. Bei der Interpretation dieser Statistiken ist aber mitzubedenken, dass durch Zuwanderung nicht alle Bevölkerungssegmente gleichmäßig wachsen, da sich insbesondere der Zuzug durch Geflüchtete auf bestimmte Populationen beschränkt, die Risikogruppen für strafrechtliche Auffälligkeit darstellen. Um zu einem statistisch sauberen Ergebnis zu kommen, müsste man Asylwerbende nicht mit der österreichischen Gesamtpopulation, sondern mit einer vergleichbaren Gruppe in Relation setzen, nämlich jungen Männern, die in ökonomisch unsicheren Verhältnissen leben, und sich mit eingeschränkten Möglichkeiten für ein selbstbestimmtes Leben und damit einhergehendem Status- und Bedeutungsverlust konfrontiert sehen.

Dazu kommen Diskriminierungserfahrungen und psychische Belastungen. Eine neue Studie, die ich gemeinsam mit KollegInnen an der Wirtschaftsuniversität Wien durchgeführt habe, zeigt, dass hier gerade junge Geflüchtete zwischen 15 und 24 Jahren stark belastet sind: Jeder Sechste leidet an einer mittelgradig oder schweren Depression oder Angststörung. Die Dunkelziffer ist aufgrund der statistischen Untererfassung hoch, während die psychosoziale Betreuung hierzulande ausbaufähig bleibt.

Diese Gemengelage bildet den idealen Nährboden für Gewaltdelikte, denen ein Wunsch nach Anerkennung, Kontrolle und Macht zugrunde liegt, wie es bei Beziehungstaten der Fall ist. Eine Studie der World Bank zeigt, dass ökonomische Ungleichheit, die den Männern Arbeitsplätze und damit die Möglichkeit nimmt, ihre Familie zu ernähren, ein wesentlicher Prädiktor für steigende Mordraten ist. Wenn der eigene soziale Status das einzige ist, worüber man noch selbst verfügen und sich definieren kann, werden abstrakte Konzepte wie Ehre oder Respekt leidenschaftlich verteidigt, notfalls mit Gewalt. Insbesondere dann, wenn der ohnehin schon prekäre Status auch noch von einer Frau herausgefordert wird. Gleichzeitig korreliert ökonomische Ungleichheit stark mit Geschlechterungleichheit, sowohl auf der gesellschaftlichen als auch der individuellen Ebene. Männer, die von Abstiegsängsten bedroht sind, ziehen sich stärker in klassische Rollenbilder zurück und setzen auf eine Form der Männlichkeit, die negative Gefühle nicht ausspricht, sondern durch Gewalt artikuliert. Statistisch überrepräsentiert bei Gewaltdelikten sind also nicht Asylwerbende, sondern ganz generell junge Männer in prekären Lebenssituationen und mit fehlenden Zukunftsperspektiven.

Auch der Zusammenhang zwischen Kriminalität und Integration ist kein linearer: Weder „beweisen“ niedrige Kriminalitätsraten der ausländischen Bevölkerung ihre Integration, noch deuten höhere Raten, insbesondere bei der zweiten oder dritten Generation von Einwanderern, auf Des-Integrationsprozesse hin. Denn Integration zeigt sich nicht durch völlige strafrechtliche Unauffälligkeit, sondern durch „normale“ Kriminalitätsraten. Wie Walter Fuchs und Arno Pilgram in ihrem Beitrag im Sammelband Migration und Integration: Fakten oder Mythen (2019) argumentieren, verweist der Prozess des Anzeigens bzw. angezeigt Werdens auf eine Überwindung des eigenen Milieus, gesteigerte Erwartungen an Freiheit innerhalb der eigenen Community und darüber hinaus, und grundsätzliches Vertrauen in die Strafverfolgung durch öffentliche Behörden. All das deutet auf verstärkte gesellschaftliche Teilhabe und die Inanspruchnahme institutioneller Unterstützung zur Bewahrung bzw. Durchsetzung der eigenen Rechte hin.

Das ist besonders bei Gewalttaten in der Familie der Fall, welchen nicht selten interfamiliäre Konflikte aufgrund fortschreitender Emanzipation und Aufbegehren der Ehefrauen oder Töchter zugrunde liegen: Laut Bundeskriminalamt waren im Jahr 2017 in 43 Prozent der (versuchten) Morde Täter und Opfer verwandt oder verschwägert, in weiteren 23 Prozent der Fälle bestand ein Bekanntschaftsverhältnis. Während häusliche Gewalt bzw. Gewalt in Beziehungen auch in früheren Einwanderungswellen verbreitet war, war es für Frauen der Gastarbeitergeneration nahezu undenkbar, diese Taten zur Anzeige zu bringen, nicht zuletzt aufgrund der ökonomischen Abhängigkeit vom Familienoberhaupt.

Gerade junge migrantische Frauen machen heute aber stärker von ihren Rechten Gebrauch und wollen sich nicht mehr alles gefallen lassen, sei es vom Partner, Bruder oder Familienvater. Viele Gewalttaten sind nun darauf zurückzuführen, dass Männer, ob Österreicher oder Ausländer, Zurückweisungen und Trennungen nicht ertragen, kurz: dass Frauen sich das Recht nehmen, zu tun, was sie wollen. In der Dynamik dieses Emanzipationsprozesses zeigt sich die stets symbiotische Beziehung zwischen dem Zuwachs an Macht und Freiheit für Frauen und den Rückschlägen gegen sie: Denn erst dann, wenn Frauen Fortschritte erzielen, werden sie zur Bedrohung für Männer, sodass sich Gegenreaktionen formieren, die unter anderem in Gewalt Ausdruck finden.

Wenn Anzeigen wegen häuslicher Gewalt aus migrantischen Familien zunehmen, zeigt dies also bestehende patriarchale Verhältnisse, jedoch auch, wie sie in unserer Gesellschaft langsam erodieren. Denn Strafanzeigen sind nicht nur Ausdruck einer Rechtsverletzung, sondern verweisen immer auch auf eine Problematisierung und aktive Zurückweisung der erlebten Gewalt durch die Opfer. Sie setzen Vertrauen in österreichische Behörden, Überwindung der familiären Zwänge und Zustimmung zur Strafverfolgung einer dem Opfer nahestehenden Person voraus. Paradoxerweise kann bekannt gewordene Kriminalität deshalb auch ein Indikator für gelungene Integration sein, über komplizierte, konfliktbehaftete und schmerzhafte Emanzipationsprozesse.

 

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