Impfpflicht mit Nebenwirkungen

Katharina T. Paul
am 25.03.2019

Zum Jahresanfang hat die Weltgesundheitsbehörde (2019) Impfskepsis zu einer der zehn größten Bedrohungen für globale Gesundheit erklärt. Angesichts sinkender Impfraten forderten auch in Österreich einschlägige Akteure wie die Ärztekammer oder auch die steirische und oberösterreichische ÖVP schnell eine allgemeine Impfpflicht, unter anderem mit dem Vorschlag, den Erhalt der Kinderbeihilfe an Impfungen zu knüpfen. Doch ein solches Politikinstrument war auch in anderen Ländern bisweilen nur bedingt wirksam, und zum anderen überlagert die Debatte zur Impfpflicht auch eine notwendige Auseinandersetzung mit möglichen Schwächen des österreichischen Gesundheitssystems.

Mit der Gestaltung von Impfsystemen beschäftigen sich nicht nur Gesundheitsbehörden, sondern auch Sozialwissenschafterinnen und Verhaltensforscherinnen. In einem ist man sich einig: die Gründe für Nicht-Impfen sind mannigfaltig und kontextspezifisch, sie reichen von Vertrauensmangel in wissenschaftliche und staatliche Institutionen und Industrie bis zu Vergesslichkeit und Bequemlichkeit. In seltenen Fällen spielen auch religiöse Einwände eine Rolle. Für Österreich besteht hier im Übrigen eine große Forschungslücke. Man weiß wenig über die Faktoren, die Impf- oder Nichtimpfverhalten prägen.

Wie verorten sich Forderungen nach einer allgemeinen Impfpflicht im internationalen Vergleich? Bis zur Mitte des 20.Jahrhunderts waren in fast allen EU Ländern gewisse Impfungen – etwa gegen Pocken und Masern – rechtlich verpflichtend. In einigen Staaten in Zentral- und Osteuropa besteht eine ähnliche Pflicht immer noch, teils mit finanziellen Sanktionen, teils mit der Androhung rechtlicher Konsequenzen für Eltern und Erziehungsberechtigte. Doch auch in Deutschland, Frankreich und Italien lassen sich in den letzten Jahren neue Strategien beobachten. Zum einen setzt man auf sogenannte “nudges” – das sind Instrumente, mit denen man versucht, die Entscheidungen von BürgerInnen in eine bestimmte Richtung zu lenken. Doch auch stärkere Eingriffe des Staats sind zu beobachten. Seit 2017 werden etwa in Deutschland Eltern vor Eintritt in eine Kindertagesstätte zu einem Impfberatungsgespräch verpflichtet. Dieser Vorstoß ist allerdings heftig umstritten, auch, weil es ein klarer Bruch mit der Tradition der Freiwilligkeit war. Mit einer Impfpflicht riskiert man schließlich auch Widerstand – oder sogenannte Reaktanz – zu erzeugen, statt Motivation, warnt sozialpsychologische Forschung.

In Frankreich und Italien wurden bereits bestehende Regeln ausgeweitet: Die Verpflichtung zu bis zu zwölf Impfungen wird einerseits mit der Androhung finanzieller Strafen durchgesetzt, andererseits durch die Verpflichtung eines Nachweis bestimmter Impfungen (wie jene gegen Masern) für den Zutritt zu kollektiven Bildungsinstitutionen. Bei letzterem Instrument warnen SozialwissenschafterInnen allerdings davor, dass damit Familien vor allem sozioökonomisch  geschadet würde oder Kindern gar der Zutritt zum Bildungssystem verwehrt werden könnte.

Wie lassen sich Impfsysteme abseits der Kategorien Pflicht und Freiwilligkeit bewerten? Die Durchimpfungsrate wird oft als alleiniger Indikator für die Qualität eines Impfsystems herangezogen, doch sagt diese Zahl wenig aus über Barrieren im Zugang und die Einbettungen von Impfungen in der Primärversorgung. Denn die Erhebung und Analyse dieser Daten ist auch eine Frage nationaler und oftmals subnationaler Politik. In Österreich ist Gesundheitspolitik den Bundesländern zugesprochen. Zwar haben somit Landesbehörden oft tiefgehendes Wissen und zum Teil auch Daten über mögliche System- oder Versorgungslücken, doch werden diese nicht immer über Landesgrenzen hinweg geteilt und bewertet.

So bleibt es bei fragmentierten Initiativen und lokalen Lösungen. Würde man diese Datenbanken in ein zentrales Register umwandeln, könnte man dieses dafür nutzen, Impflücken gezielt anzugehen und auch im Falle von Epidemien schneller zu handeln. In skandinavischen Ländern sowie in den Niederlanden wird durch staatliche Impfanbieter und Register sehr viel stärker gesteuert, indem Eltern und andere Zielgruppen spezifisch zu Impfungen eingeladen werden und auch an Impfungen erinnert werden – oftmals in öffentlichen Impfstellen, die in Österreich nur einen geringen Anteil der Kinderschutzimpfungen leisten. Hierzu kommt auch, dass in Österreich allein ÄrztInnen impfen dürfen. Im Gegensatz dazu ist in Ländern wie Portugal, dem Vereinigten Königreich und der Niederlande auch spezialisiertes Pflegepersonal dazu befugt, Impfungen zu verabreichen. Wie Studien andeuten, kann dies das Vertrauen in den Impfenden stärken und soziale Ungleichheiten im Zugang zu Impfungen minimieren, vor allem, wenn jene in Schulen angeboten werden können. Letzteres erfordert auch in Österreich noch eine gemeinsame politische Lösung.

Die erwähnten Datenbanken sind auch für die Forschung sehr wichtig, weil sich mit ihnen die Wirksamkeit – wie auch Nebeneffekte – einer Impfung gut erfassen und zeigen lässt. Die Ausgestaltung der bestehenden Register kann helfen, Vertrauen in die Forschung zu Impfungen zu schaffen, indem sie diese Arbeit öffentlicher Institutionen wie der Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES) sichtbarer macht. Epidemiologische Überwachung und Kontrolle und Verbesserung zugelassener Wirkstoffe sind öffentliche Aufgaben – doch diese datenintensive Arbeit bleibt fast unsichtbar in der öffentlichen Wahrnehmung.

Neben der Forderung einer allgemeinen Impfpflicht dominieren nach wie vor tradierte Konzepte der Bildungsarbeit den impfpolitischen Diskurs. Denn Gesundheitspolitik geht immer noch davon aus, dass BürgerInnen Technologien – wie hier Impfungen – aufgrund von Wissensdefiziten abwehren. Diese scheinbar defizitäre Öffentlichkeit gilt es mittels Kampagnen und Bildungsarbeit zu informieren, wenn nicht zu belehren. Oft geht dies mit einem oftmals falschen Verständnis der Öffentlichkeit als wissenschaftsfeindlich und unwissend einher.

Dabei ist die Annahme, dass Ungeimpfte es einfach nicht besser wissen, überholt. Auf Basis unterschiedlicher Methoden weist sozialwissenschaftliche Forschung zu Impfskepsis darauf hin, dass zumindest in den USA, Italien, und der Niederlande auch und gerade im höheren Bildungssegment Tendenzen zu zunehmender Skepsis gegenüber Impfungen herrschen. Die politische Herausforderung liegt also vielmehr darin, Vertrauen in das staatliche Impfsystem zu stärken als scheinbare Wissenslücken zu füllen.

Zuletzt könnten die sinkenden Impfraten auch Symptom dafür sein, dass Wohlfahrtsstaatlichkeit neu gedacht und jedenfalls neu erforscht werden muss. Konzepte wie jenes der “Herdenimmunität” stehen schließlich nicht nur sprachlich in starkem Kontrast zu individualisierenden Instrumenten in anderen sozialpolitischen Bereichen. In vielen europäischen Wohlfahrtsstaaten haben beispielsweise private Pensions- und Gesundheitsvorsorgeprogramme Einzug gehalten, die im Widerspruch zu solidarischen Instrumenten stehen. Die Erwartung, dass BürgerInnen sich im Falle von Impfungen auch im Sinne des kollektiven Gemeinwohls entscheiden, ist gesundheitspolitisch nachvollziehbar. Sie passt aber nicht zum aktuellen Paradigma der “neoliberalen Elternschaft”, wie die Soziologin Jennifer Reich es bezeichnet, in welchem individuellen Entscheidungen großen Wert beigemessen wird. Da diese Eigenverantwortung auch in anderen Politikfeldern stark gefördert wird, ist es vielleicht wenig verwunderlich, wenn solidarisches Impfverhalten auf der Strecke bleibt.

Aus all diesen Gründen reicht eine Debatte über eine Impfpflicht alleine nicht aus, im Gegenteil, sie polarisiert das Thema vielmehr. Ein Impfzwang könnte am Ende nur ein Symptom behandeln – sinkende Impfraten – ohne eine wissenschaftliche fundierte Diagnose für ein System zu haben, das womöglich kuriert gehört. Sinnvoll wäre zum ersten eine Inventarisierung systemischer Schwächen, die Impfpolitik prägen und damit auch Impfverhalten beeinflussen. Es mangelt an Kassenordinationen im pädiatrischen Bereich, ihre beschränkten Öffnungszeiten gehören ausgeweitet. Es fehlt an österreichweit vergleichbaren Daten, die die Debatte über Impfen versachlichen und das Vertrauen in ein gemeinschaftliches Gesundheitswesen fördern. Öffentliche Gesundheit muss zugänglicher werden, durch transparentere Entscheidungen und Datenlage einerseits, und gesundheitspolitische Reformen andererseits, die abseits von berufspolitischen Interessen getroffen werden sollten.

 

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