Rhetorik der Evidenz oder Politik der Interessen

Katharina T. Paul
am 28.02.2019

Der Begriff der evidenzbasierten Politik hat international Hochkonjunktur: Fakten, Zahlen, und andere Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung sollen politische Entscheidungen informieren; der Einfluss von Ideologie, Interessen und Werten sollen dadurch in den Hintergrund gedrängt werden. Auch die jetzige österreichische Regierung hat den Begriff der Evidenz für sich entdeckt. “Evidenzbasiert” ist zu einem beliebten Schlagwort geworden, auch die im Kanzleramt eingerichtete Stabstelle für „Strategie, Analyse und Planung“ (“Think Austria”) soll evidenzbasiert arbeiten. Dieses Signal, der regelmäßige Schlagabtausch zu statistischen Werten in öffentlichen Debatten und nicht zuletzt die Aufstockung universitärer Forschung mögen zumindest diese Hoffnung bei jenen erwecken, die erwarten, dass sich demokratische Politikgestaltung auf das beste vorhandene Wissen gründet.

 

Bei genauerer Betrachtung sehen wir allerdings, dass Gestaltung und Wirkung von Evidenz untrennbar verknüpft sind mit Politik. In der Bildungspolitik etwa wird so manche Evidenz, die gegen getrennte Deutschklassen spricht, strategisch ausgeklammert, in der Tabakpolitik und der Klimapolitik überwiegen politische und industrielle Interessen vor gesamtgesellschaftlichen. Hinter der Rhetorik der Evidenz verbirgt sich demnach so manche Politik der Interessen. Welche demokratiepolitischen Konsequenzen ergeben sich durch diese sehr eigene Verwendung des Evidenzbegriffs?

 

Der Begriff der evidenzbasierten Politik entstand unter New Labour im Vereinigten Königreich und gewann zunächst vor allem in der Gesundheitspolitik an Bedeutung. Dort sollte er dafür sorgen, dass nicht etwa berufspolitische Interessen eine medizinische Behandlung bestimmen, sondern wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse zu deren Wirksamkeit. In erweiterter Verwendung – beispielsweise in Australien, dem Vereinigten Königreich, und der Niederlande – bedeutet Evidenzbasierung, dass Politikgestaltung auch in anderen Politikbereichen grundsätzlich wissenschaftliche Forschung mit einbezieht, und der Effekt von Politikinstrumenten somit auch effektiver evaluiert werden kann.

 

Welche Rolle spielt Evidenz in der österreichischen Politik? Zum einen wird Evidenz durch statistische Werte erfasst, sei es Raten zu Arbeitslosigkeit, Frauenerwerbstätigkeit, oder zur Lebenserwartung. Der zuständigen Behörde, Statistik Austria, wird durch die verbindliche Statistikverordnung (Regulation 223/2009) der EU und den darauf aufbauenden Verhaltenskodex (2017) Unabhängigkeit zugesichert. Diese Unabhängigkeit ist in Zeiten starker Polarisierung nicht nur ein wissenschaftliches, sondern auch ein demokratiepolitisches Gut.

 

Die Öffnung von Datenbanken von Behörden und Ministerien für wissenschaftliche Forschung durch das novellierte Forschungs-Organisationsgesetz setzt wiederum ein positives Signal für mehr unabhängige Forschung. Das Gesetz erleichtert Registerforschung, die in nordischen Ländern bereits lange Alltag ist. Dass es in Österreich jedoch für jeden einzelnen Datenbestand einer ministeriellen Verordnung bedarf, und die Tatsache, dass manche Datenbanken – wie etwa die Bildungsevidenz – davon ausgenommen sind, lässt vermuten, dass hier nicht nur Daten geschützt werden sollen, sondern vielleicht auch ein politischer Status Quo.

 

Zuletzt gelten in der Forschung natürlich nicht nur Zahlen und quantitativ Messbares als Evidenz, sondern auch andere Formen der Grundlagenforschung – dass beispielsweise narrative Erfahrungsberichte wenig Beachtung finden, liegt allerdings nicht (nur) an der österreichischen Politik, sondern am engen Evidenzbegriff, der oft von jenen gehandhabt wird, die evidenzbasierte Politik als einzig demokratische Legitimation betrachten.

 

Wie lässt sich die aktuelle rhetorische Verpflichtung zur Evidenz bewerten?

Rezente Entscheidungen – denken wir an erhöhte Geschwindigkeit auf Autobahnen und die fehlenden Maßnahmen in der Tabakpolitik – lassen deutlich sehen, dass eben auch andere Werte zur Geltung kommen als jene der wissenschaftlichen Evidenz. Evidenz kann also aus politischen Gründen verworfen werden, selektiv in Verwendung geraten, und selbst mit politischer Motivation gefärbt sein.

 

Aus politikwissenschaftlicher Perspektive mag dies wenig überraschend sein, doch für jene, die sich durch die Rhetorik der evidenzbasierten Politik anderes erwartet hatten, sollte dies ein klares Signal dafür sein, dass hier nicht nur der Begriff der Evidenz selektiv verwendet wird, sondern auch jenes Wissen, das daraus entstehen kann. Oft werden Daten beispielsweise zwar gesammelt, aber nicht analysiert; oder es werden Daten gar nicht erst erhoben. So entsteht das, was die Soziologin Linsey McGoey strategisches Nichtwissen nennt. Die Entscheidung des Sozialministeriums, Fragen zu Überstunden in letzter Minute aus der Erhebung zu Arbeitszeiten zu entfernen, spricht auch deutlich für eine solche strategische Politik des Nicht-Wissens.

 

Aus diesem Grund haben sich in den vergangenen Wochen Stimmen aus der Wissenschaft und Politik für eine Unabhängigkeit der amtlichen Statistik ausgesprochen, und zugleich für die Notwendigkeit, auch Rohdaten offenzulegen, sodass jene möglichst aus verschiedenen Perspektiven zu bewerten wären. Für Forschende liegt hier deutlich das Interesse an Datensätzen im Vordergrund, doch auch demokratiepolitisch würde dies ein Gewinn an demokratischer Kontrolle bedeuten.

 

Dennoch bleibt die Trennung zwischen Politik und Evidenz eine unscharfe, und ist viel mehr als Prozess denn als Resultat zu sehen. Schließlich ist Evidenz auch untrennbar mit dem verknüpft, was wir als demokratische Gesellschaften als wissenswert befinden oder historisch als politisch relevant definiert haben – sei es die durchschnittliche Lebenserwartung, die Anzahl der Erwerbstätigen, oder Durchimpfungsraten. Dass jene Werte, die sozialpolitisch so zentral stehen, möglichst unabhängig von direkter politischer Einflussnahme der Exekutive erfasst werden sollten, ist allerdings eine klare demokratiepolitische Anforderung.

 

Evidenzbasierte Politik muss also als Prozess verstanden werden, in dem Wissen und strategisches Nichtwissen wichtige Rollen spielen. Deshalb darf evidenzbasierte Politik nicht zur alleinigen Maxime werden. Denn Politik muss neben wissenschaftlichen vor allem auch demokratiepolitischen Ansprüchen gerecht werden und hat auf Basis von Werten zu entscheiden, die kollektiv vertreten werden – etwa die Verpflichtung zu einem solidarischen Gemeinschaftsgefüge.

Zum zweiten muss deutlich sein, dass Evidenz zwar oft hilfreich im Versachlichen einer Debatte sein kann, aber das Heranziehen von fachlicher Expertise keineswegs demokratische Beteiligung und Diskussion ersetzen kann.

Evidenz ist also kein Rettungsanker in Zeiten zunehmender Polarisierung, sondern nur eine demokratische Schwimmhilfe von vielen, die grundsätzlich hinterfragt und diskutiert gehört.

 

Weitere Ausgaben:
Alle Artikel des FALTER THINK-TANK finden Sie in der Übersicht.

12 Wochen FALTER um 2,50 € pro Ausgabe
Kritischer und unabhängiger Journalismus kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit einem Abonnement!