DEBATTENKULTUR

Die Bremsen der Freiheit

Rechtspopulisten zerstören die liberale Demokratie. Doch auch die Linke vertraut dem Versprechen von Freiheit nicht mehr. Nicht ganz zu Unrecht

Matthias Dusini MATTHIAS DUSINI | 14.11.2018

Mit diesen Kindern spiel ich nicht. Die Absage einer Lesung der feministischen Autorin Margarete Stokowski in einer Münchner Buchhandlung Anfang November löste eine Kontroverse aus. Der Geschäftsinhaber führt Bücher des rechten Verlags Antaios im Sortiment, nicht um dessen Ideologie zu propagieren, sondern um die Gedankenwelt des politischen Gegners zugänglich zu machen. Natürlich könnten Buchhändler darüber entscheiden, was sie ihren Kunden anbieten, erkärte Stokowski. „Aber genauso müssen auch Autorinnen und Autoren entscheiden, wo sie gerne lesen wollen und wo nicht.“

Liberales Denken kommt derzeit von mehreren Seiten unter Druck. Rechtspopulisten zerstören Pluralität und wünschen sich eine illiberale Demokratie. Sie erheben sich über die Objektivität der Wissenschaften und argumentieren mit Verschwörungstheorien. US-Präsident Donald Trump beschimpft missliebige Journalisten, der österreichische Innenminister Herbert Kickl versucht, sie einzuschüchtern. Doch wie sieht es bei jenen aus, die gegen den „Neofaschismus“ auf die Straße gehen?

Demokratie braucht Liberalität als Luft zum Atmen. Zur Liberalität gehören Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung. Wer „liberal“ sagt, meint die Freiheit des Individuums und ihre 200-jährige Geschichte. Buchhandlungen etwa sind nicht nur Papiermärkte, sondern Bühnen der Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Hier wird nicht nach politischem Gutdünken sortiert, sondern über die Vielfalt von Gedanken informiert. Seit der Aufklärung stehen in den Regalen die Bücher von Feinden friedlich Seite an Seite, der Name des NS-Juristen Carl Schmitt neben Moritz Schlick, dem von einem rechten Studenten ermordeten Wiener Philosophen. Wer den Austausch von Meinungen unterbinden möchte, bricht ein ungeschriebenes Gesetz: die Neugier auf widerstrebende Ansichten als Voraussetzung für Erkenntnis überhaupt. Stokowski ist nicht die Ausnahme.

Sobald der politische Gegner am Horizont auftaucht, sind die Grenzen linker Toleranz schnell erreicht. Rechte Autoren sind von Symposien ausgeschlossen, auch wenn sie sich diskursbereit zeigen. Unlängst flogen zwei Kinder aus einer Wiener Waldorfschule, deren einziger Makel darin bestand, dass ihre Mutter als Aktivistin der Identitären Bewegung auffiel. Tauchen einschlägige Kleinverlage auf der Frankfurter Buchmesse auf, müssen sie sich auf tätliche Übergriffe gefasst machen. Antaios-Verleger Götz Kubitschek wurde im Oktober in Frankfurt außerhalb des Messegeländes von Vermummten überfallen und getreten.

Nicht nur diese Einzelfälle zeigen, wie zwiespältig sich das Verhältnis der Linken zur Liberalität darstellt. Ein Blick auf die 68er-Revolte fördert verdrängte Widersprüche zutage. Spricht man mit den Veteranen der Gesellschaftsveränderung, landet man zwar schnell beim Begriff der Liberalisierung. Zumindest in den westlichen Ländern gilt es gemeinhin als Erfolg der 68er, dass sie zu einer Befreiung von sexuellen Zwängen und staatlicher Bevormundung beigetragen haben. Die zeitgenössischen Manifeste und theoretischen Begründungen vieler Protagonisten schlagen einen anderen Ton an. Eine rote Rätediktatur sollte es schon sein. Im Zweifelsfall würde nicht der Gang zur Wahlurne, sondern die Kalaschnikow den Lauf der Dinge bestimmen.

Für liberale Denker an den Universitäten war der Mai 68 ein Albtraum. Obwohl Forscher wie der Berliner Literaturwissenschaftler Peter Szondi (1929–1971) viel Verständnis für die jungen Rebellen hatten, gerieten sie ins Fadenkreuz der Radikalen – als „Scheißliberale“. Im Verständnis der Revoltierenden galt schon als Verräter, wer ein neutrales Verhältnis zur eigenen, bürgerlichen Klasse pflegte.

Der Mai 68 war weniger liberal, als es seine Apologeten überliefern. Diesem Trugschluss sitzen auch jene ultrakonservativen Kritiker auf, die vom „linksversifften 68“, wie es im Jargon der Alternative für Deutschland (AfD) heißt, vor allem die sexuelle Liberalisierung und antiautoritäre Erziehung wahrnehmen. Zumindest im politischen Teil der Bewegung dominierte nach anarchistischen Anfängen bald eine Kommandostruktur, die individuelle Freiheit als dekadentes Abweichlertum ahndete. Die Probleme des Liberalismus begannen nicht mit 68.

Einige Schlaglichter auf eine lange Geschichte: In der Ringstraßenzeit des 19. Jahrhunderts verfestigte sich der Eindruck, Profitstreben sei die eigentliche Bestimmung der Moderne. Damals entstand die Gleichsetzung von politischem mit wirtschaftlichem Liberalismus. Als nach dem Ersten Weltkrieg in ganz Europa Demokratien entstanden, nannten sie sich zwar liberal, stießen aber auf eine breite Front der Ablehnung. Kommunisten und Faschisten propagierten den gewaltsamen Umsturz als Alternative zu dem als „Quatschbude“ diffamierten Parlament. Einig waren sich die an sich feindlichen Lager auch darin, dass das Großkapital die Regierung regiert. Das Feindbild „liberal“ kehrt unter veränderten Vorzeichen wieder.

In heutigen verbalen Schlammschlachten wird das Wort „liberal“ – dem US-amerikanischen Sprachgebrauch folgend – zumeist synonym für „links“ verwendet. Zum Standardrepertoire der Rechten gehören Angriffe auf den angeblich von Linken dominierten Staatsfunk, obwohl Feindbilder wie der „ZiB 2“-Moderator Armin Wolf nur die Grundsätze kritischer Berichterstattung beachten. Das populistische Urgestein Silvio Berlusconi beschimpfte politische Gegner grundsätzlich als „Kommunisten“, und das zu einem Zeitpunkt, als der ehemals so starke Partito Communista sich gerade in nichts auflöste.

Der Falter bekam von der Kronen Zeitung das Label „Bolschewikenblatt“ umgehängt, auch wenn sich das ehemalige Redaktionskollektiv längst in ein ganz normales Unternehmen verwandelt hatte. In östlichen Ländern wird nicht lange um den heißen Brei herumgeredet. Hier steht „liberal“ für westliche Dekadenz, eine Mischung aus Regenbogenparade, Gendertheorie und Willkommenskultur. Umgekehrt lassen sich Linke ungern daran erinnern, dass ihr Alleinstellungsmerkmal, der Sozialismus, nur mehr in Spurenelementen vorhanden ist.

Die bunten Farben von Diversität und Toleranz leuchten beim einstigen Klassenfeind am hellsten. Globale Unternehmen achten auf die Frauenquote in der Chefetage und schätzen eine möglichst multiethnische Zusammensetzung der Belegschaft. Statt universeller Gleichheit fordern sowohl Personalmanager als auch antirassistische Zentralkomitees partikulare Verschiedenheit.

Das Bekenntnis zum ersten Gebot liberalen Denkens, der Freiheit des Individuums, fällt Linken schwer. Wer ihm dennoch folgt, kommt in den Verdacht, ein Büttel des Neoliberalismus zu sein. „Es ist besser, in Opposition zum Liberalismus zu sein als zur Rechten“, sagt Sunkara Bhaskar, Gründer des linken New Yorker Magazins Jacobin. Er meint damit die ehemalige demokratische Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton, die von der Finanzwirtschaft unterstützt wurde und dem Republikaner Donald Trump unterlag. Die Verachtung des Bündnisses zwischen Wall Street und Sozialdemokratie ist so groß, dass „liberal“ in linken Kreisen als Schimpfwort zirkuliert.

Im politischen Tagesgeschäft punkten die Linken dann doch eher mit Gender und Diversity als mit dem erneuerten Klassenkampf. Die großen Siegerinnen der Parlamentswahlen in den USA waren Kandidatinnen mit einer identitätspolitischen Agenda. Erfreut berichteten wohlgesonnene Kommentatoren vom erstmaligen Einzug zweier Muslimas in den Kongress. Deren Verhältnis zum islamischen Gottesstaat war den Autoren keine Zeile wert.

Das Verhältnis zwischen links und liberal bleibt vertrackt. In der Wahrnehmung ihrer Gegner stellt sich die heutige Linke als Stachel im Fleisch der freien Gesellschaft dar. Die Rede ist von einer durch politisch Korrekte herbeimoralisierten Verbotsgesellschaft, welche die Sprache von missliebigen Wörtern säubere und die Einrichtung von Transgenderklos erzwinge. Dabei steht der Kampf gegen Diskriminierung in einer klassisch liberalen Tradition der Verteidigung von Menschenrechten.

Man könnte den Schlachtruf der Französischen Revolution, Liberté!, ins heutige Vokabular übersetzen – als Barrierefreiheit. Der Hass der Rechten auf die politisch Korrekten schließt an die Ablehnung der „versifften“ 68er an. Nicht der bolschewistische Kampfgeist widert FPÖ-Mind Herbert Kickl oder den AfD-Scharfschützen Alexander Gauland an, sondern der liberale Kern der Political Correctness: dass das Ideal der psychischen und physischen Integrität für alle gilt, auch für Schwule und Lesben oder Frauen mit Hidschab. Mit der Verstaatlichung der Stahlindustrie könnten Lega und FPÖ besser leben als mit der Einführung des Gendersternchens.

Ja, es fällt mitunter schwer, in den Forderungen nach Gleichstellung der Geschlechter und Ethnien die roten Wangen der Freiheit zu erkennen. Mit religiösem Eifer fallen Aktivisten und Aktivistinnen über Kunstwerke her, die traumatisierende Wirkung etwa in Form nackter Körper haben könnten. Ein Gedicht von Eugen Gomringer musste unlängst von der Fassade einer Berliner Universität entfernt werden – es hätte die Gefühle von Frauen verletzen können. Manche liberale Köpfe schrecken vor so viel Illiberalität zurück und tappen damit in die nächste Falle. Alten, weißen Männern fehlt die Währung, die den Zugang zum Opferadel eröffnet: Betroffenheit. Doch der Konflikt geht tiefer.

Die Krise der liberalen Demokratie wurzelt in einem uralten Konflikt. Kehrt man zurück zu den ersten Aufständen gegen die vermeintlich gottgegebene Ordnung, dann tritt Liberté stets in Verbindung mit der Egalité, der Gleichheit, auf. In ihrer hellsichtigen Streitschrift „Für einen linken Populismus“ hebt die belgische Politologin Chantal Mouffe den Unterschied zwischen den beiden Prinzipien hervor. Liberalismus sei ein möglicher, aber kein zwingender Begleiter der Volksherrschaft.

Der Westen bietet die konsumistische Wahlfreiheit im Kaufhaus an. Das ist zu wenig. Viele verspüren eine große Leere und haben den Eindruck, von den Entscheidungen ausgeschlossen zu sein. Das Drama des klassischen Liberalismus wiederholt sich: ein aus dem Ruder laufender Kapitalismus verhilft einigen wenigen zu großem Reichtum, während die große Mehrheit an der Wahlurne Demokratie spielen darf. Mouffe trifft einen wunden Punkt.

Mit ihrem aggressiven Wir-Gefühl geben rechte Parteien eine falsche Antwort auf eine richtige Frage: Wie lässt sich das Gleichgewicht zwischen Autonomie und Gerechtigkeit wiederherstellen? „Eine Demokratie muss nicht notwendigerweise liberal sein“, sagt Viktor Orbán auf Seite 13. Mouffe plädiert für einen linken Populismus, der die Herrschaft der Ökonomie über die Politik beendet. Vergessen wir einmal kurz unsere liberale Äquidistanz und denken Mouffes Ansatz weiter. Nach unzähligen verlorenen Wahlen ist es an der Zeit, von der FPÖ und Donald Trump zu lernen. Zu lange haben sich die Linken darauf verlassen, die Rechten mit dem Nazivorwurf mundtot machen zu können. Nun gilt es zur Kenntnis zu nehmen: Die Menschen haben das Gefühl, vom Establishment vergessen worden zu sein. „Die da oben richten es sich.“

Diese Skepsis gegenüber den parlamentarischen Instrumenten ist berechtigt, denn viel zu viele bemängeln, dass sie nur einmal alle vier oder fünf Jahre um ihre Meinung gefragt werden. Warum nicht ein Gegenparlament gründen? Eine radikale Opposition würde auch die Kritik an der EU verschärfen, die zum Instrument der Banken und Börsen zu verkommen droht.

Rechte setzen Ressentiments ein, um den Hass der Menschen auf Flüchtlinge und Muslime zu schüren. Statt über Toleranz zu schwadronieren, sollten die Linken den Wert von Ressentiments akzeptieren: gegen Oligarchen und Politiker, welche die Meinungsvielfalt zerstören. Da funkt das liberale Über-Ich: Stop! Mouffes Bewegungslehre impliziert ein romantisches Wir, das den Keim der Unfreiheit in sich trägt. In einer illiberale Demokratie von links hieße es wieder: Nach der Revolution sprechen wir uns noch, Freundchen!