KRISE DER LINKEN

Das Schweigen der Hämmer

Wahlkämpfer buhlen um die Arbeiter. Dabei sind die Proletarier längst verschwunden oder nach rechts abgewandert. Die Identitätspolitik löste den Klassenkampf ab. Was tun?

Matthias Dusini MATTHIAS DUSINI | 13.09.2017

In Wahlkampfzeiten erinnern sich Politiker an einen Begriff, der mythische Bilder hervorruft, die Arbeiterschaft oder – noch klangvoller – das Proletariat. Der Sozialdemokrat Martin Schulz wirbt im Wahlkampf für den deutschen Bundestag um die Malocher, sein österreichischer Kollege Christian Kern, ebenfalls auf Stimmenfang, lässt sich in einer Montagehalle fotografieren, in der Nähe des kleinen Mannes, der hart arbeitet.

Dabei haben die hiesigen Sozialdemokraten mit ähnlichen Problemen zu kämpfen wie ihre Nachbarn. Vor 17 Jahren waren 44 Prozent der Leute, die der SPD die Stimme geben wollten, Arbeiter, heute sind es nur noch 17 Prozent. Angestellte und vor allem Rentner wählen die ehemaligen Hacklerparteien. Was ist mit der ehemals so stolzen Klasse passiert?

Bella, ciao

Stellen Sie sich ein Kornfeld in der Toskana vor, auf dem einst Hunderte Knechte und Mägde Ähren schnitten und zum Trocknen banden, ehe das Getreide auf einen Karren geladen und zum Dreschen abgeholt wurde. Heute rattert ein unbemannter Mähdrescher über die Fläche, die Gesänge der Landarbeiterinnen über das harte Los der Geknechteten sind verstummt. Keine „bandiera rossa“ flattert mehr im Wind. Bella, ciao!

Der Wiener Bezirk Favoriten entstand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts rund um den neuen Südbahnhof herum. Tausende Arbeiter gingen in die Gießereien und zu den Hochöfen, die Schienen und Motoren für die Eisenbahn produzierten. Wer einen Eindruck von den rauchenden Schloten in den Schmidtstahlwerken bekommen will, muss das Bezirksmuseum besuchen, in dem einige Fotos der rußigen Epoche erhalten geblieben sind. Die meisten Backsteintempel sind abgerissen, um Platz für Wohnanlagen und Büros zu schaffen, nur einige Kamine stehen da, vom Denkmalschutz erhalten.

Die sozialdemokratische Politik verlor ihre Basis. Rekrutierten sich die Mitglieder linker Parteien lange Zeit noch aus der Arbeiterklasse, so müssen heutige Protagonisten schon im Familienalbum stöbern, um proletarische Reste zu finden. Kern verweist gerne auf seine Zeit als junger, alleinerziehender Vater; in der postindustriellen Praxis gilt das schon als Nachweis, dass einer anpacken kann. Jetzt wird wieder in die Managerhände gespuckt.

Ähnlich geht es den US-Demokraten, in deren Reihen sich kaum mehr Volksvertreter mit Produktionshintergrund befinden. Die bewusstseinsbildenden Jahre verbrachten Barack Obama und Hillary Clinton auf dem Campus, nicht am Fließband.

Ein Blick auf die Forschungsschwerpunkte des Wiener Instituts für Wirtschafts- und Sozialgeschichte zeigt den Verfall der einstigen Königsdisziplin linker Historiografie. Hier finden sich zwar Themen wie Corporate Governance, indische Diaspora und Polyamorie, nicht aber die Arbeiterklasse, deren Aufstände einst Bibliotheken füllten.

Hat sich die „classe operaia“ mithin in ein Phantom verwandelt, das allenfalls noch auf Maifeiern beschworen wird? Brüder- und Schwesterlichkeit als Heilmittel gegen die Verheerungen des Neoliberalismus. Alles nur Schattenboxen?

Selber schuld

Ein Blick in die Arbeitswelt vergegenwärtigt den Umbruch. „Verwirkliche dich selbst!“, lautete der kreative Imperativ der 68er-Bewegung. Er ließ sich in den Start-ups der Weltverbesserung, von alternativen Druckereien bis zu kalifornischen Computerschmieden, besser umsetzen als in hierarchisch organisierten Betrieben, denen durch die Automatisierung ohnehin die Arbeit ausging. Doch auch in sterbenden Maschinenkathedralen gaben flexible Arbeitszeiten dem jungen Schweißer das Gefühl, nicht mehr der Sklave des Arbeitstaktes zu sein.

Statt geschlossener Reihen gab es mehr und mehr ambitionierte Alleingänge, die sich gewerkschaftlich nur schwer auf einen Nenner bringen lassen. Nicht mehr der kapitalistische Ausbeuter ist schuld, wenn etwas schiefgeht, sondern der Einzelne, der es nicht schafft. Der Künstler überholte den Proletarier als Hoffnungsträger sozialer Utopien: In der Apple-Bohème lösen sich die Grenzen zwischen Arbeits- und Freizeit auf, jeder kann sich der digitalen Produktionsmittel bedienen.

Von vielen wurde diese Aufforderung zur Eigenverantwortung als Befreiung empfunden, doch der Schritt vom erzwungenen Schweiß zum freiwilligen Fleiß hat seinen Preis. Freie Mitarbeiter etwa in Architekturbüros oder Redaktionen agieren wie Unternehmer, werden aber wie Hilfskräfte bezahlt, Selbstverwirklichung erweist sich als Selbstausbeutung. Leidenschaftliches Engagement für die Sache wird auch auf den Universitäten nicht mit einer Festanstellung belohnt, sondern durch ein vages „Schauen wir mal“. Auf das Leid der Arbeiter folgte die Klage der Prekarisierten, das Schlagwort Prekarität benennt das Elend der fragilen Arbeitsbeziehungen.

Der Geist des neuen Kapitalismus inspirierte auch die politischen Häuptlinge, die das unternehmerische Denken in ihre Stammesgebiete hineintrugen. Sozialdemokratische Minister eröffneten durch neue Arbeitsgesetze Putzfrauen und Bauarbeitern die Möglichkeit, Einpersonenunternehmen (EPU) zu gründen. Die EPUs dürfen sich ihre Löhne ohne Betriebsrat aushandeln und ihre Arbeitszeit einteilen. Das zynische Motto lautet: Ausbeuten können wir uns schon selbst. Die Banken leisteten ihren Beitrag zur Neuformatierung: Wer Kredite für Auto und Einfamilienhaus abzustottern hat, denkt nicht an Generalstreik, sondern an die nächste Monatsrate.

Tränen statt Schweiß

Doch nicht nur das geänderte Arbeitsideal entfremdete die Linke vom Proletariat. Wo einmal Klassenkampf war, ist Identitätspolitik, wo Unterdrückung, da Diskriminierung. Antirassismus und Feminismus beerbten den Marxismus. Immer neue Gruppen melden Entschädigungsansprüche an, zunächst Frauen und Afroamerikaner, dann Schwule und Intersexuelle.

Der für die alte Revolte so typische kollektive Schulterschluss fiel dabei einem individuellen Aufbegehren zum Opfer, das die Rechte des Selbst in den Mittelpunkt rückte. Jeder hat das Recht, gekränkt zu sein. Es ist nicht mehr die Willkür eines Vorarbeiters, die das Gefühl der Entfremdung hervorruft, sondern ein verächtlicher Blick, eine herablassende Bemerkung.

Trauma Trump

Der Streit über materielle Ungleichheit wird aufs Feld der Psychologie ausgedehnt, wo Ausdrücken wie „Schwuchtel“ oder „Nigger“ mehr Bedeutung beigemessen wird als der Einsparung von Arbeitsplätzen. Auf den Wahlplakaten progressiver Gruppen löste der geschlechtergerechte Genderstern Hammer und Sichel ab. Hol dir, was dir zusteht!

Die Rede ist nicht mehr von Ausgebeuteten, sondern von Opfern. Die Durchsetzung des Rechts auf eine psychische und physische Integrität schien unaufhaltsam. Liberale Optimisten waren sich sicher, wenige Jahre noch, und eine Welt ohne Barrieren und mit Transgender-Toiletten würde Realität. Doch es kam anders.

Entsetzt blickte das weltoffene Establishment nach der vergangenen US-Präsidentschaftswahl auf die Statistiken. Ein hoher Prozentsatz von Arbeiterinnen und Arbeitern hatte nicht mehr demokratisch, sondern den republikanischen Präsidentschaftskandidaten Donald Trump gewählt. Obwohl deren Stimmenanteil gar nicht so viel ausmacht, auch die USA sind von der Entindustrialisierung betroffen, bildeten die Arbeiter in einigen sogenannten Swing States das Zünglein an der Waage.

Ein ähnliches Szenario offenbaren Wahlen in Frankreich, Italien oder Österreich, die linken Wähler wandern nach rechts. In den heruntergekommenen Industriestandorten Frankreichs wandten sich die ehemaligen Kommunisten von ihrer Partei ab und wechselten zum Front National, die englischen Labour-Anhänger stimmten für den Austritt aus der EU, auch aus Ressentiment gegen die vielen ausländischen Arbeitskräfte. Im ehemaligen Arbeiterbezirk Favoriten verteidigen die Roten mit Müh und Not ihre Mehrheit in der Bezirksvertretung, die blauen Freiheitlichen liegen nur wenige Prozentpunkte dahinter.

Viele Kommentatoren waren ratlos. Sie machten sich auf den Weg in den Rust Belt („Rostgürtel“), das ehemalige Industriezentrum, um mit Eingeborenen zu reden, die sie an ihren karierten Holzfällerhemden erkannten. Der konservative amerikanische Publizist J. D. Vance führt in seinem Buch „Hillbilly Elegy“ in die Welt der Trump wählenden Unterschicht und schildert desolate Familienverhältnisse und Drogensucht.

Viele seiner Nachbarn und Freunde in Ohio berufen sich zwar auf proletarische Werte wie Ehrlichkeit und Solidarität, weigern sich aber, einen Job anzunehmen. Sie bleiben lieber im Wohnwagen und leben von staatlichen Zuwendungen. Insgeheim identifizieren sie sich nicht mit der Selbstgenügsamkeit der Blue-Collar-Welt, sondern liebäugeln mit dem glitzernden Strizzitum ihres Idols Donald Trump.

In J. D. Vance’ Schilderungen werden die Bruchlinien sichtbar, die zwischen den Hillbillys und der politisch korrekten Elite verlaufen. Der Autor stellt etwa die Hürden dar, die sich vor jedem Aufsteiger auf dem Weg in die distinguierten Hörsäle der Ivy-League-Universitäten aufbauen. Beim Pöbel sind Schriftstellernamen ebenso unbekannt wie die Weinsorte Chardonnay, die niedere Herkunft drückt sich bereits beim ungeschickten Flaschenöffnen aus. Einmal Hinterwäldler, immer Hinterwäldler.

Fort aus Reims

Mit der Hilfe seiner Freundin schaffte es Vance, seine Schamgefühle zu überwinden und den Aufstieg zu wagen. Die linken Intellektuellen blicken auf die Parvenüs herab, denn sie ernähren sich von Fleisch und sagen böse Wörter. Der Proletarier mutierte zum Proll, der keine Bücher liest, sondern Internet schaut. Hillary Clinton brachte im Wahlkampf zur US-Präsidentschaft ihre Verachtung mit dem Begriff der „deplorables“ (wienerisch: Armutschkerln) zum Ausdruck.

Auch ein französisches Buch lieferte Erklärungen für das folgenreiche Schisma zwischen der Linken und der Arbeiterschaft. Als 2016 „Rückkehr nach Reims“ des französischen Autors Didier Eribon auf Deutsch erschien, konnte niemand ahnen, dass sich das bereits sieben Jahre alte Buch zum Bestseller entwickeln würde. Es erzählt den Besuch Eribons bei seiner Familie in einer Industriestadt.

Das Wiedersehen bereitete keine Freude. Die ehemaligen Kommunisten wählen längst den Front National, die rassistischen und homophoben Einstellungen der Freunde und Verwandten werden dem Schwulenaktivisten im Rückblick auf die Kindheit schmerzhaft bewusst. Die Projektionsfläche sozialistischer Hoffnungen vergilbte zum Bild der Trostlosigkeit, in dem der Hass auf den anderen die Gefühle von Empathie und Solidarität abtötete.

Der Erfolg von Eribons Buch lässt sich auch damit erklären, dass viele Leser und Leserinnen sich an den eigenen Aufstieg erinnern, der mit einem Bruch einherging. Viele 68er schämten sich wie Eribon für die eigenen Eltern, denen das kleinbürgerliche Glück mit Schrebergarten und Kleinwagen wichtiger war als der Klassenstandpunkt.

Der gewerkschaftlich organisierte Arbeiter ging lieber zum Schlagerabend als zum Auftritt der trotzkistischen Straßentheatergruppe. Immerhin suchte die neomarxistische Bewegung noch die Nähe der Lehrlinge und Dreher, wenn auch mehr im studentischen Bewusstsein als im Sein der Stechuhr. Dann fand die Entindustrialisierung auch in den Köpfen statt.

Die popkulturell sozialisierte Jugend der 1980er-Jahre kappte die Verbindung zur Welt der Kollektivverträge und Lohnrunden. In den nach Coolnessgraden bewerteten Distinktionsgemeinschaften hatte das sowjetische Arbeiterkapperl der 68er ausgedient. Die Lebensstile der Unterprivilegierten wurden zu Zeichenreservoirs mit Protestpotenzial verklärt, die Mods oder Punks stiegen zu Repräsentanten von glaubwürdiger Authentizität auf.

Die politische Teilhabe jener, die der Selbsttribalisierung nicht folgen wollten und mit Kampfhund und im Jogginganzug in der Fußgängerzone chillten, stand nicht mehr auf der Agenda. Die Kulturindustrie spendete zwar ausgewählten Underdogs Applaus, aber nur jenen, die mit der Werkbank assoziierte Kleiderfirmen wie Carhartt zu Brands für Hip-Hop-Videos veredelten. Mit den von den Folgen der Globalisierung betroffenen Trägern dieser Zeichensysteme wollte niemand mehr etwas zu tun haben. Der Street Style boomte, der Industriegürtel rostete. Hoch die internationale Kreativität!

Zurück zu Marx

Die Bücher von Vance und Eribon ermöglichen es den Lesern und Leserinnen, eine Gewissenserforschung zu betreiben. Die ehemals marxistische Linke blickt in ein Zerrbild, aus den Verwandten sind Fremde geworden. Die ersten Autoren und Autorinnen fordern ein Zurück zu den Wurzeln.

Theoretiker gehen mit der Identitätspolitik hart ins Gericht. Die New Yorker Politikwissenschaftlerin Nancy Fraser sieht den Feind nicht nur im Neoliberalismus, der die Industriearbeit nach Mexiko und Asien auslagerte und die heimische Wirtschaft zerstört. In ihren Augen würden auch der Multikulturalismus und Antirassismus dem Establishment unbeabsichtigt zuarbeiten. Schlagwörter wie Diversität und Empowerment würden der Wall Street und dem Silicon Valley einen fortschrittlichen Anstrich geben.

Nicht minder kritisch analysiert der US-Soziologe Mark Lilla die „große Regression“. „Die Linke hat sich selbst zerstört“, konstatiert der Autor, der einem Artikel in der New York Times nach Trumps Wahl nun ein Buch folgen lässt. Lilla spricht von einer narzisstischen Blindheit gegenüber den Lebensrealitäten außerhalb universitärer Schutzräume, in der bereits Komplimente als sexuelle Belästigung geahndet werden.

Es stimmt, die Kulturlinke mit ihrem Minderheitenfetisch hat viele blinde Flecken. So verhält sie sich dem tendenziell frauen- und schwulenfeindlichen Islam gegenüber defensiv. Bereits Michel Foucault äußerte sich am Anfang erstaunlich positiv über die Islamische Revolution im Iran 1978/79. Marxisten diskutierten damals eine Annäherung an die Koranbrüder als Option im antiimperialistischen Kampf.

Der iranische Gelehrte Ali Schariati leistete begriffliche Beihilfe zur Islamisierung des Klassenkampfs. Er übersetzte die marxistischen Begriffe der Unterdrückten mit „mostadafin“ („die Schwachen“), einem Ausdruck aus dem Koran. Für viele Antikolonialisten blieb der Islam eine Waffe im Kampf gegen den großen Feind – und die einzige Verbindung zu den verarmten Massen in den Vororten von Kairo und Istanbul. Die Beißhemmung vieler linker Aktivisten gegenüber dem politischen Islam hat mit dieser gemeinsamen Opfermythologie zu tun, die den Aufstand der „Schwachen“ gegen den militärisch-industriellen Komplex westlicher Bauart rechtfertigt.

Die linke Kritik an der Political Correctness zeigt allerdings nur, auf welch unsicherem Grund deren Autoren stehen. Didier Eribon hält am Begriff der „populären Klassen“ auch nach dem Verschwinden der Arbeiterklasse fest – obwohl sein autobiografischer Bericht eine einzige Abrechnung mit der dumpfen Umgebung ist. Seine Biografie als schwuler Mann ist der beste Beweis dafür, dass Klassenkampf und sexuelle Emanzipation sich nur schwer miteinander verbinden lassen. Aber geht das eine ohne das andere?

Pankaj Mishra skizziert in seinem Buch „Das Zeitalter des Zorns“ einen globalen Konflikt, der über die Frage nach einer größeren sozialen Gerechtigkeit hinausgeht. Pensionserhöhungen und Hacklerregelungen vermögen den Zorn jener nicht abzukühlen, die zu kurz gekommen sind. Das sind eben nicht nur die ungelernten Hilfsarbeiter, sondern auch die Akademikerinnen der Mittelschicht, die sich im Wettbewerb um Anerkennung übergangen fühlen.

Mishra geht ins 19. Jahrhundert zurück, um dieses Dilemma darzustellen. Das demokratische Versprechen auf Gleichheit widerspricht dem Wunsch, etwas Besonderes zu sein. Unzählige Gruppen von Anarchisten und Bolschewiken nahmen lieber den Tod in Kauf, als sich mit kleinen Fortschritten abspeisen zu lassen.

Das Ressentiment ist auch heute noch das Gift, mit dem islamistische Terroristen, linksradikale Straßenkämpfer und Internettrolle ihre Wutdepots füllen. Sie eint der Hass auf ein System, das ihnen einen Anteil an der Beute in Aussicht stellt, ohne dieses Versprechen einzulösen. Der Manager, der nächtens in Internetforen gegen Genderwahn und Willkommenskultur hetzt, wüsste ja, wo’s langgeht, wenn man ihn nur fragen würde.

Die Anrufung eines Miteinanders fällt daher besonders schwer. Das Geschäft mit der Gemeinschaft beherrschen jene besser, die eine Regression zum reinen „Wir“ propagieren. Diese äußert sich im Rückgriff auf das verklärte Osmanische Reich, wie ihn Erdoğan betreibt, oder in der Idealisierung eines ethnisch vermeintlich homogenen Abendlands in den Wahlbroschüren von FPÖ und AfD. Ohne äußeren Feind, den Ungläubigen oder den Flüchtling, ist diese moralische Erhöhung nicht zu haben.

Wenn Erdoğan in Wien nicht nur vor türkischen Studierenden und Unternehmern, sondern auch vor Tausenden anatolischen Bauarbeitern und Raumpflegerinnen auftritt, stellt er ihnen keine besseren Arbeitsbedingungen in Aussicht, sondern gibt ihnen das Gefühl, gehört zu werden. Sie vernehmen zum ersten Mal nach vielen Jahren harter Arbeit: „Ich bin stolz darauf, was ihr geleistet habt.“ Die Linke hat diese Menschen längst aufgegeben.

Früchte des Zorns

Im November (in Russland: Oktober) 1917 zettelte Lenin, ein Lehrersohn mit sadistischen Neigungen, in St. Petersburg einen Staatsstreich an. Die als Ursache überlieferte Unzufriedenheit der Arbeiter ist nur die halbe Wahrheit. Eine brutale Diktatur war notwendig, um aus einem kaum industrialisierten Riesenreich ein Arbeiter- und Bauernimperium zu machen.

Mit dem Kapitalisten hatte der Bolschewismus ein mächtiges Feindbild in Umlauf gebracht, um den Hass der Menschen nach der Abdankung des Zaren zu kanalisieren. Heute lässt sich mit der Karikatur geldgieriger Fabrikanten keine Wahl mehr gewinnen. Die Herzen der Massen bleiben kalt. Das Ressentiment wohnt nicht mehr links.

Der Stolz der Arbeiterklasse ist Geschichte, und kein neues rotes Wir ist in Sicht. Wo ist die Bewegung der hundert Farben, die das akademische Prekariat ebenso umfasst wie den polnischen Bauarbeiter, der in einem EPU zur freiwilligen Selbstausbeutung verdammt wird? Ein Heer von Pflegekräften und Paketzustellern verspürt Ausbeutung am eigenen Leib. Es müsste sich unter dieselbe Flagge stellen wie eine Feministin, die sich für gleichen Lohn in Führungspositionen einsetzt. Eine Hymne gibt es dafür ebenso wenig wie ein die Herzen erhebendes Fahnenmeer. Der Sozialismus ohne Fabrik muss erst wieder eine Heimat finden.

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