ROT-BLAU

Die lange Geschichte des Tabus

Barbara Tóth BARBARA TÓTH | 07.06.2017

Nein, diese Rolle zu spielen hätte sich Robert Misik nie vorstellen können. Der politische Autor, der gerade eine Porträt des Kanzlers Christian Kern vorgelegt hat, sitzt am Freitag vor Pfingsten im Wiener Innenstadtintellektuellencafé Korb und zieht an seiner Marlboro Gold. Es ist richtig heiß, aber Misik lässt sein Sakko heute an. Er hat vor einer Woche mit dem Nachrichtenmagazin Profil über die Folgen einer blauen Regierungsbeteiligung gesprochen. Er formulierte schnell und pointiert, wie meistens, und eine seiner Sätze ist seitdem zum Jingle für das rot-blaue Tauwetter geworden. „Rot-Blau wäre weniger unappetitlich als Schwarz-Blau“, lautet dieser Satz, der sich seitdem in jedem Artikel, jedem Kommentar und tausenden Einträgen im Netz wiederfindet, wenn es um das neue, entspannte Verhältnis der SPÖ zur FPÖ geht.

Ausgerechnet Misik, der Mann, der einst die legendären Donnerstagsdemonstrationen im Jahr 2000 gegen die schwarz-blaue Regierung Wolfgang Schüssels mitanführte. Misik, der linke Vordenker und Falter-Autor. Misik, der gerade im Wiener Schauspielhaus polit-aktionistisches Theater mit dem Namen „Agora“ macht. Wenn sogar einer wie er Rot-Blau nicht mehr als das Undenkbare und Unaussprechliche sieht, wer denn dann?

Niemals mit der FPÖ! Von dieser Festlegung hat die SPÖ seit 1986 gut gelebt. Mehr als eine Generation junger Sozialdemokratinnen wuchs mit diesem Reinheitsgebot auf, das der ehemalige SPÖ-Chef und Kanzler Franz Vranitzky aussprach, als Jörg Haider die FPÖ putschte. Dass damals die SPÖ seit drei Jahren in aufrechter Koalition mit der FPÖ war, ist ein Aspekt der Geschichte, der meistens ausgeblendet wird. Dass sich die Sozialdemokratie bei den Themen Migration und Integration von der FPÖ in den darauffolgenden Jahrzehnten trotzdem vor sich hertreiben ließ, ebenfalls. Kritikerinnen gingen sogar so weit, zu sagen, dass das A-priori-Nein zur FPÖ für die SPÖ über die Jahre zu einer Art ideologischem Surrogat wurde, aus dem sich eine bequeme moralische Überlegenheit speiste. Befürworter sahen darin eine demokratiepolitische Grenzziehung, eine Art Cordon sanitaire.

Niemals mit der FPÖ! Damit hat auch die FPÖ die letzten 31 Jahre gut gelebt. Haider liebte es, die „Ausgrenzung“ durch die „Vranitzy-Doktrin“ zu beklagen. Es gab ihm die Möglichkeit, sich als Märtyrer und Opfer des Establishments zu inszenieren. Heinz-Christian Strache ahmt ihn in diesem Punkt bis heute nach.

Niemals mit der FPÖ! Mit Vranitzkys Festlegung hat am Ende die ÖVP am besten gelebt. So war sie nie zur automatischen Zusammenarbeit mit der SPÖ gezwungen – und damit zur großen Koalition.

Österreich ist ein strukturell konservatives Land, eine abgesicherte linke Mehrheit bei Nationalratswahlen gab es nur in den 1970er-Jahren unter Bruno Kreisky. Folglich ist die Androhung, mit der FPÖ statt mit dem großkoalitionären Partner zu regieren, so alt wie die Zweite Republik. Wann immer es ihr passte, zog die ÖVP die blaue Karte, und es gibt kaum Zweifel, dass es der neue ÖVP-Parteichef Sebastian Kurz am Wahlabend des 15. Oktober genauso halten wird. Der kürzlich verstorbene ÖVP-Chef Alois Mock wollte schon 1986 von Haiders Gnaden ins Kanzleramt ziehen, aber die Großkoalitionäre in seiner Partei ließen ihn nicht. Wolfgang Schüssel nahm Haiders Angebot im Jahr 2000 dankbar an und ließ sich zum Kanzler machen, obwohl er nur als Dritter aus den Nationalratswahlen hervorgegangen war.

Solange für die SPÖ das „Nicht mit der FPÖ!“ gilt, wird sie der ÖVP und der FPÖ bei offenen Koalitionsverhandlungen immer machttaktisch unterlegen sein. Wenn es nach den nächsten Nationalratswahlen solche überhaupt gibt und Schwarz-Blau nicht schon längst ausgemacht ist.

Die Meinungsforschung sieht derzeit die drei annähernd gleich starken Volksparteien SPÖ, ÖVP und FPÖ im Kampf um Platz eins, vorübergehend mit leichtem Vorsprung für Kurz. Rot-Grün-Neos wird sich einmal mehr nicht ausgehen (siehe Marginalie). Rot, Schwarz und Blau – jeder wird mit jedem rechnerisch eine Regierung bilden können, am Ende gewinnt in so einer Situation der, der der FPÖ am meisten entgegenkommt.

Macht es unter solchen, aus Sicht Kerns misslichen, Umständen überhaupt Sinn, die Öffnung zur FPÖ öffentlich zu zelebrieren und damit blau-affine Modernisierungsverlierer und pink-grün-affine Bobos gleichzeitig ansprechen zu wollen? Nein, ärgert sich der Politologe Anton Pelinka. „Die Sozialdemokratie will es beiden recht machen – und am Ende macht sie es niemandem recht“, prophezeit er im Kurier. „Wenn sich die SPÖ vor der Wahl darauf festlegt, auch mit der FPÖ zu koalieren, verliert sie nicht nur mich als Wähler, sondern viele andere auch“, warnt Ferdinand Lacina im Falter-Gespräch.

Auch im Wahlkampfteam der SPÖ ist der rot-blaue Kurs umstritten. Kerns Umfragenexperte Tal Silverstein hat ihm in Migrationsfragen mehrmals zu einer kantigeren Positionierung geraten, unterstützt von einem Teil von Kerns Presseteam. In der SPÖ-Parteizentrale in der Löwelstraße sitzt mit Georg Niedermühlbichler wiederum ein Mann, der in Wien Wahlen bestritten hat, indem er sie als Duell zwischen Michael Häupl und Strache inszenierte. Mit Kerns neuem Strategie- und Kommunikations-Wahlkampfleiter Stefan Sengl, der auch schon Heinz Fischers Präsidentschaftskampagnen managte, soll es in der SPÖ wieder runder laufen.

Das ist auch dringend nötig. Spätestens bis zum Parteivorstand am 14. Juni will sich die SPÖ nicht nur auf den Kriterienkatalog einigen, sondern auch auf die Mitglieder-„Urabstimmung“, der jedes zukünftige Koalitionsabkommen unterworfen sein soll, nicht nur ein rot-blaues. Den Kriterienkatalog hat Kärntens Landeshauptmann Peter Kaiser erfunden, die Urabstimmung Häupl.

Ursprünglich hätten diese beiden Instrumente der SPÖ die lästige Frage „Wie hältst du es mit der FPÖ?“ im Wahlkampf ersparen sollen. Reden wir nicht über Koalitionen, sondern über unsere Inhalte und darüber, wie wir unsere Mitglieder beteiligen! Auch das gelang nicht.

Dabei war das Dogma „Niemals mit der FPÖ!“, das mit so großem Aufwand gerade abgebaut wird, historisch gesehen immer nur ein vorübergehendes. Das sagt sogar sein Begründer, Altkanzler Franz Vranitzky. „Was heute als Doktrin herumgereicht wird, war ja keine, sondern das Ergebnis eines politischen Kalküls vor 30 Jahren“, gab er Kern schon vor Monaten eine Carte blanche – oder Carte rouge-bleue.

Tatsächlich lässt sich die Situation des Jahres 2017 mit jener des Jahres 1986 nicht mehr vergleichen. Die SPÖ hatte über 40 Prozent und regierte in einer kleinen Koalition mit der FPÖ, die zu diesem Zeitpunkt eine Fünfprozentpartei mit national-liberaler Fassade und vielen alten Nazis in ihren hinteren Reihen war. Die gab es aber, zugegebenermaßen, auch in den anderen Parteien, die SPÖ mit eingeschlossen. Die Generation, die den Zweiten Weltkrieg aktiv erlebt hatte, stand erst vor der Pensionierung.

Der große Bruch kam mit der Waldheim-Affäre. Es war nun nicht mehr in Ordnung, wie es der ehemalige Wehrmachtsoffizier Kurt Waldheim im Präsidentschaftswahlkampf formuliert hatte, zu sagen, er habe „nur seine Pflicht erfüllt“.

Waldheim, der von der ÖVP nominiert worden war, war kein Kriegsverbrecher, aber er wurde zum Symbol für das Wegschauen und Verdrängen der Mittäterschaft am Holocaust. Die internationale Presse interessierte sich plötzlich für Österreich und seine „braune“ Vergangenheit. Die ÖVP propagierte – nicht zum ersten Mal – den nationalen Schulterschluss. Jetzt erst recht! Wir wählen, wen wir wollen. Waldheim gewann. Jörg Haider nutze das Momentum, putschte sich an die Spitze der FPÖ und ging von nun an als Versteher der Kriegsgeneration auf Stimmenfang, deutschnationale und antisemitische Töne inklusive.

Heute liegt die FPÖ unter Heinz-Christian Strache bei rund 25 Prozent und ist zu einer Österreich-patriotischen Catch-All-Partei mutiert. Den Deutschnationalismus hat sie fast völlig, den Antisemitismus nahezu ganz abgelegt. Das neue Feindbild ist der politische Islam. Geblieben ist ihr die typische rechtspopulistische Melange aus Ausländerhetze, Autoritarismus und traditionellen Rollenbildern.

Vranitzky konnte sich 1986 mit seinem „Niemals mit der FPÖ!“ mit einem Schlag nicht nur als aufrechter Antifaschist positionieren, der das moderne, aufgeklärte, sich seiner historischen Schuld bewusste Österreich repräsentiert, sondern – auch das war Teil seiner Strategie – als Reformer, der mit den Fehlern der Kreisky-Ära aufräumt.

Die rot-blaue Koalition von 1983 bis 1986 war das Erbe des vielgeehrten „Sonnenkönigs“ Kreisky gewesen. Seine 13 Jahre an der Macht werden in der SPÖ aufgrund ihrer gesellschaftspolitischen Errungenschaften glorifiziert. Dass am Anfang und am Ende seiner Ära aber die FPÖ als Steigbügelhalter dienen musste, wird dabei gerne ausgeblendet.

Kreiskys war eben kein Großkoalitionär. Er hatte noch den Bürgerkrieg zwischen Roten und Schwarzen in der Zwischenkriegszeit erlebt. Unter dem autoritären Dollfuß-Regime wurde er als Jungsozialist verurteilt und saß gemeinsam mit illegalen Nazis im Gefängnis. Aus dieser Zeit rührt sein Verständnis für Menschen, die sich von Adolf Hitler haben blenden lassen.

Kreiskys Ziel war immer, die bürgerliche Mehrheit im Land zur Not eben auch mit Hilfe der FPÖ auf Dauer zu brechen. So hatte er Rot-Blau 1983 eingefädelt, als klar war, dass er die absolute Regierungsmehrheit bei den Nationalratswahlen verfehlen würde. So war er mithilfe der FPÖ 1970 als Kanzler einer Minderheitsregierung an die Macht gekommen.

Das dafür notwendige Vertrauensverhältnis zum damaligen FPÖ-Chef Friedrich Peter hatte er über Jahrzehnte hinweg intensivst gepflegt, immer in der Hoffnung, dass sich in der FPÖ am Ende der liberale Flügel durchsetzen werde. Das war auch die große Fehleinschätzung von Kreiskys Rot-Blau-Strategie.

Sie ging immer davon aus, dass sich die FPÖ von einem Sammelbecken alter Nationalsozialisten, als die sie nach dem Zweiten Weltkrieg 1949 mit Duldung der Westalliierten und der SPÖ als „Verband der Unabhängigen“ (VdU) gegründet worden war, zu einer Art österreichischen FDP umerziehen lassen würde. Der Historiker Oliver Rathkolb geht sogar so weit, die VdU-Gründung als den eigentlichen „Sündenfall der Zweiten Republik“ zu bewerten. Ohne VdU keine FPÖ und keine „Tausche-kleine-gegen-große-Koalition-Drohkulisse“ – ein charmantes, aber leider überflüssiges Gedankenspiel.

FPÖ-Wähler, die vom richtigen Weg abgekommene ehemalige SPÖ-Wähler sind und die es zurückzuholen gilt, diese sehr an Kreisky erinnernde Geschichte präsentierte Christian Kern seiner Partei auch auf seinem ersten Parteitag im Juni 2016 als neues Ziel.

Man könne sie begeistern, aber nicht, indem man ihnen vorschreibe, dass „Multi-Kulti eine super Sache“ zu sein habe. Nicht, indem man ihnen sage, ihr habt uns falsch verstanden, wir müssen unsere Politik besser erklären. Sondern indem man ihnen zeige, wir waren immer eure Partei und wollen jetzt wieder „Schulter an Schulter“ Politik mit und für euch machen.

Anders als Burgenlands Landeshauptmann Hans Niessl ist Kern kein Herzens-Rot-Blauer, sondern Pragmatiker. Ihm persönlich entspräche eine rot-grün-pinke Koalition wohl am ehesten, auf jeden Fall will er seine Partei aus der strategischen Sackgasse des „Niemals mit der FPÖ“ wieder herausholen.

Im Herbst stellte sich Kern dann auch noch einem Ö1-„Klartext“-Streitgespräch mit Heinz-Christian Strache. Ein roter Parteichef und Kanzler, der auf Augenhöhe und respektvoll, phasenweise fast amikal mit einem FPÖ-Anführer diskutiert?

Spätestens zu diesem Zeitpunkt war deutlich, was für ein Balanceakt Kerns rot-blauer Krebsgang werden würde. Verständnis und Empathie für die Sorgen und Lebenswelt der FPÖ-Wähler zu zeigen ist das eine. Dabei ihre politischen Repräsentanten nicht unnötig aufzuwerten etwas anderes. Dann auch noch die hochemotionalen Themen der Rechten, allen voran Begriffe wie Volk, Nation, Identität, Migration und Religion, aufzugreifen, ohne dabei ins Rechtspopulistische abzudriften, ist die hohe Kunst des politischen Framings. Im März des heurigen Jahres ging das schief, als sich Kern an die Spitze der Gegner des „EU-Relocation“-Programms setzte und kurzfristig sogar die Aufnahme von 50 jugendlichen Flüchtlingen in Österreich infrage stellte.

Am Vorabend des SPÖ-Parteivorstands am 14. Juni, in dem der Kriterienkatalog und die Urabstimmung beraten werden, ist Wiens Wohnbaustadtrat Michael Ludwig (SPÖ) bei Robert Misiks „Agora“-Theater im Schauspielhaus zu Gast. Ludwig war einer der Ersten, die das „Niemals mit der FPÖ“-Dogma infrage stellten. Jetzt gilt er als Rot-Blau-Fanboy. Ludwig will aber auch Wiener Bürgermeister werden. Da kommt ein Besuch beim Paradelinken Misik, für den Rot-Blau neuerdings auch nur mehr das geringere Übel ist, gerade recht. Es ist ganz schön unübersichtlich geworden in der neuen SPÖ. Wenigstens die Parteifarbe bleibt, die ist nach wie vor Rot.