Der arabische Mann

am 05.05.2017

Die arabische Welt hat ein Problem: den arabischen Mann. Genauer gesagt: das patriarchale Konzept von Männlichkeit, das in den arabischen Ländern wesentlich mächtiger ist als in anderen Weltregionen. Selbstverständlich haben die arabischen Länder daneben jede Menge handfeste Probleme: Bürgerkriege, Gewalt, repressive Regierungen, religiösen Fundamentalismus, hohe Arbeitslosigkeit, unzureichende Bildung, schlechte ökonomische Perspektiven und einen großen demografischen Druck durch ein starkes Bevölkerungswachstum. Probleme, die in ihrer Intensität über den arabischen Raum hinausstrahlen und in ihren Ausläufern längst bei uns in Europa angekommen sind.

Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch: Auch diese Konflikte haben sehr viel mit dem arabischen Mann zu tun. In seinem Beharren auf männlicher Autorität und seinem Bedürfnis nach sexueller Kontrolle hält er Frauen von Öffentlichkeit, Arbeitswelt und Politik fern – zum Schaden der arabischen Länder. Riesige gesellschaftliche Ressourcen bleiben ungenützt. Nur ein Viertel der arabischen Frauen geht arbeiten, das ist der niedrigste Wert weltweit.

All das hat jeder, der sich mit diesem Raum beschäftigt, bereits geahnt – umfassend belegen ließ es sich bisher jedoch nicht. Nun aber gibt es den Report „Understanding Masculinities“, der den gefühlten Zusammenhang mit Daten unterfüttert. Die Studie ist Teil eines weltweiten Forschungsprojekts, des „International Men and Gender Equality Survey“ (IMAGES), das seit 2008 die Einstellungen zum Thema Gleichberechtigung in verschiedenen Weltgegenden erhebt und vergleichbar macht. Untersucht werden die Arbeits-und Aufgabenverteilung in der Partnerschaft, das Verständnis von Vaterschaft, Rollenzuschreibungen, Gewalt in der Familie, Sexualität in- und außerhalb der Ehe, Verhütung oder die Haltung zur Homosexualität.

Für den aktuellen Report wurden zwischen April 2016 und März 2017 in Marokko, Ägypten, Palästina und im Libanon 10.000 Männer und Frauen zwischen 18 und 59 Jahren befragt. „Wir wussten, dass wir damit an Grenzen gehen“, schreibt Studienautor Mohammad Naciri im Vorwort. „Denn das größte Hindernis für die Gleichberechtigung ist die Gesellschaft: du, ich, unsere Nachbarn, und die Normen und Stereotypen, die wir wahren und weitergeben.“ Die Ergebnisse liegen nun vor.

Auf den ersten Blick zeigen sie, wie fest das Patriarchat im arabischen Raum im Sattel sitzt. Die Studie misst das Rollenverständnis anhand der Haltung zu Sätzen wie „Die wichtigste Aufgabe der Frau ist, zu kochen und den Haushalt zu führen“,“Der Mann sollte das letzte Wort über Entscheidungen haben“,“Es gibt Situationen, in denen eine Frau verdient, geschlagen zu werden“, oder „Der Mann muss Vormund für alle weiblichen unverheirateten Familienmitglieder sein“. Zwei Drittel bis drei Viertel der arabischen Männer haben demnach ein traditionelles Rollenverständnis; ebenso mehr als die Hälfte der Frauen.

Auf den zweiten Blick jedoch offenbaren sich Risse in der patriarchalen Welt. Erstens ist da die ökonomische Krise samt Arbeitslosigkeit, die es Männern immer schwerer macht, ihre Ernährerrolle auszufüllen. Zweitens gibt es Ängste und Stress, die verraten, dass das Patriarchat keines der beiden Geschlechter glücklich macht; 40 bis 51 Prozent der Frauen und 20 bis 28 Prozent der Männer in den untersuchten Ländern leiden unter depressiven Symptomen. Drittens gibt es Kriege, Armutsmigration und Flucht, die Familien zerreißen und Traditionen zerstören. Und viertens ist da das wachsende Selbstbewusstsein der Frauen. Bei diesen steigen die Ansprüche, das Bedürfnis nach Freiheit und Teilhabe.

Die Studie erinnert an die großen Fortschritte in der Region, seit im Jahr 1995 in Kairo die UN-Bevölkerungskonferenz stattfand. Die Lebenserwartung von Frauen stieg, die Müttersterblichkeit ging zurück, die Gesundheitsdaten verbesserten sich. Vor allem aber gab es große Fortschritte bei der Bildung. Die Analphabetenrate unter Frauen sank deutlich. In manchen Regionen überholten Mädchen die Burschen sogar schon, was Anwesenheit in der Schule, Noten und Abschlüsse betrifft.

Doch sie dringen mit ihren Ambitionen nicht durch. Während jüngere Frauen deutlich fortschrittlicher sind als ältere, denken die jüngeren Männer, was ihr Dominanz- und Kontrollbedürfnis betrifft, immer noch genauso patriarchal wie ihre Väter und Großväter. Nur im Libanon sind die jüngeren Männer etwas aufgeschlossener – doch damit sind sie immer noch konservativer als die älteren Frauen.

„Die jüngeren Frauen wollen mehr, aber ihre Partner sind nicht an Bord“, schreibt Naciri. „Das erzeugt Spannungen.“ Diese Spannungen zeigen sich in Gewalt – im öffentlichen Raum ebenso wie in der Familie. Gewalt als legitimes Mittel der Kindererziehung ist in den arabischen Ländern mehrheitsfähig, sowohl bei Männern als auch bei Frauen, wobei Buben häufiger geschlagen werden als Mädchen. Auch zwischen Ehepartnern ist Gewalt kein Tabu, etwa die Hälfte der Ehemänner gibt zu, schon einmal zugeschlagen zu haben. Zwischen zwei Drittel und 90 Prozent der verheirateten Männer wollen kontrollieren, was ihre Ehefrau den ganzen Tag über tut.

Was ist da los und wie hängt das alles zusammen? Das lässt sich am besten am Beispiel Ägyptens zeigen. Im Jahr 2011 demonstrierten Männer und Frauen noch gemeinsam auf dem Tahrir-Platz für Demokratie, in den Jahren danach war der Tahrir berüchtigt für kollektive sexuelle Angriffe gegen Frauen -eine Form von Gewalt, die auf arabisch „Taharrush gamea“ heißt.

Von Frauen wird sexuelle Belästigung auf der Straße in Ägypten seit Jahren thematisiert. Die UN-Studie widmet sich nun erstmals auch den Tätern und ihren Beweggründen. 64 Prozent der befragten Ägypter sagen, sie hätten sich an Belästigungen schon einmal beteiligt, 30 Prozent auch „in den letzten drei Monaten“. Warum? „Aus Spaß“, sagen 90 Prozent, „wegen der provokanten Kleidung der Frauen“, sagen drei von vier. „Den Frauen gefällt das“, meinen zwei von fünf. Täter sind in der Regel jüngere, ungebildete Männer, Opfer zumindest besser gebildete Frauen – die sich in den Städten wohl auch selbstbewusster bewegen.

Die Studie sieht hier materielle Spannungen mit im Spiel. In Zeiten massiver Arbeitslosigkeit sehen sich Männer durch die weibliche Konkurrenz umso stärker bedroht – und versuchen sie zurückzudrängen. „Wenn Arbeit knapp ist, sollten Männer die Jobs zuerst bekommen“, meinen 98 Prozent (und 88 Prozent der Frauen). Zwei Drittel wollen keine Frauen in politischen Ämtern sehen. Sie seien „in Führungspositionen ungeeignet, weil sie zu emotional sind“, sagen drei von vier Ägyptern, insbesondere die jungen.

Es scheint: Je bedrohter die traditionelle Rolle, desto brutaler wird sie verteidigt. Verheerend wirkt sich dabei der Begriff der „Ehre“ aus: „Wie sich weibliche Verwandte benehmen, bestimmt die Ehre des Mannes“, sagen fast alle Ägypter. „Burschen sind für das Verhalten ihrer Schwestern verantwortlich, auch wenn sie jünger sind“, sagen vier von fünf. Eine Vergewaltigung gilt nicht als Verbrechen an der Frau, sondern an jenen Männern, die sie schützen sollten.

Zwar wurde in den vergangenen Jahren das Mindestalter zum Heiraten auf 18 Jahre erhöht, die Scheidung für Frauen erleichtert, und die Strafen für Vergewaltigungen wurden verschärft. Auch die Klitorisbeschneidung (90 Prozent der Ägypterinnen sind beschnitten) wurde 2008 verboten, begleitet von landesweiten Kampagnen. 56 Prozent der Frauen und 70 Prozent der Männer verteidigen diese brutale Praxis heute dennoch, „weil es Tradition ist“ und weil sie „Frauen sexuell weniger anspruchsvoll“ mache.

Die Studie sieht in Ägypten einen „konservativen Vormarsch mit rigiden Vorstellungen von Männlichkeit“. Dennoch sieht sie Ansätze zur Hoffnung. Denn sie setzt auf jene qualifizierte Minderheit der ägyptischen Männer, die grundsätzlich bereit ist, sich auf Gleichberechtigung einzulassen. 30 Prozent würden eine unbeschnittene Frau heiraten; sie meinen, dass „Frauen dasselbe Recht zu arbeiten haben wie ein Mann“ und würden gern mehr Frauen in der Politik sehen.

Aus europäischer Perspektive interessant ist das Kapitel über den Libanon. Hier lassen sich die Verwerfungen ablesen, die Krieg und Flucht im Geschlechterverhältnis hinterlassen -und mit den syrischen Flüchtlingen nun auch nach Europa gekommen sind. Im Sechs-Millionen-Staat Libanon, der selbst einen jahrzehntelangen Bürgerkrieg erlebt hat, leben 450.000 vertriebene Palästinenser; in den vergangenen Jahren kamen noch etwa 1,5 Millionen Kriegsflüchtlinge aus Syrien dazu, die in überfüllten Häusern, Zelten und anderen Behelfsquartieren wohnen. Was macht die Flucht mit einer patriarchalen Ehe? Wie wirkt sich die Gewalterfahrung auf die Familie aus?

Erstes bestimmendes Gefühl: die Angst. Angst um Angehörige, Angst vor der Zukunft. Manche macht das depressiv: 42 Prozent der syrischen Männer im Libanon zeigen entsprechende Symptome. Andere macht es aggressiv. „Männer fühlen sich hilflos. Kein Ego, keine Würde. Deswegen werden sie gewalttätig zu ihren Ehefrauen, sie schreien sie ohne Grund an“, sagt ein Mann.

Die Interviews zeigen, wie sehr das Konstrukt von Männlichkeit ins Wanken gerät. „Der Mann an deiner Seite bedeutet Sicherheit, Schutz, Stabilität“, sagt eine Frau. „Von klein auf habe ich gelernt, dass ein Mann für sein Haus, seine Frau und seine Kinder sorgen muss. Das ist das Einzige, was zählt“, gibt ein Mann zu Protokoll. Aber wie soll er das tun -ohne Haus, ohne Job, ohne Geld? Die Abhängigkeit von humanitärer Hilfe stellt seine Rolle als Versorger der Familie infrage. 37 Prozent der Syrer im Libanon gaben die Arbeitssuche wegen Chancenlosigkeit bereits auf. „Es ist nicht mehr klar, was ein Mann ist. In Syrien habe ich es verstanden, aber jetzt hat sich das verändert“, sagt eine Frau. „Er fühlt sich wie ein Versager“, sagt eine andere.

Offenbar stehen die Frauen bereit, diese Leerstelle zu füllen. „Die Frauen machen alles. Wir warten nur. Männer schämen sich, Hilfe zu holen“, gibt ein Mann zu. „Frauen arbeiten jetzt“, sagt eine Frau. Weil die Polizei auf der Straße häufiger Männer als Frauen kontrolliert, veränderten sich sogar die Bewegungsmuster: „Manchmal können Männer ohne Frauen gar nicht mehr rausgehen“, berichtet eine. 25 Prozent der Befragten geben an, die Ehefrau habe seit der Migration in der Familie mehr zu sagen, sie treffe mehr Entscheidungen. „Männer spüren, dass Frauen stärker geworden sind.“

Und was machen die Männer?“Manche helfen den Frauen im Haushalt, es ist besser, als nichts zu tun“, sagt einer. Da drei von vier Flüchtlingskindern im Libanon nicht in die Schule gehen und der Krieg die Familie emotional zusammenschweißt, erzählen Väter, ihr Verhältnis zu ihren Kindern sei enger geworden. So hoffnungslos die Situation im Libanon auch ist – sie zeigt, dass das Verhältnis zwischen Männern und Frauen veränderbar ist; nicht nur durch Bildung oder bewusste Entscheidungen, sondern manchmal auch durch materielle Faktoren und traumatische Ereignisse, die man sich nicht aussuchen kann.

„Wir Libanesen/Syrer müssen mehr für die Gleichberechtigung von Männern und Frauen tun“, sagen heute 68 Prozent der Männer und 87 Prozent der Frauen. Das Patriarchat ist zwar noch mächtig. Aber der Zweifel ist gesät.

Die UN-Studie

„Understanding Masculinities. Results from the International Men and Gender Equality Survey -Middle East and North Africa“ http://bit.ly/2pt13g4

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