Der nächste Abgrund

Stephan Schulmeister
am 27.01.2016

Wer verstehen will, was uns droht, muss zuerst zurückblicken. Was waren die Ursachen der Finanzkrise 2008?

Dazu gibt es zwei Sichtweisen. Die Symptomsicht: US-Banken hatten an nahezu mittellose Menschen Hauskredite vergeben, diese zu hybriden Wertpapieren gebündelt und weltweit verkauft. Als die Zinsen stiegen und die Immobilienpreise sanken, wurden diese Papiere wertlos, das Eigenkapital der Banken schmolz, die Vertrauenskrise zog auch die Realwirtschaft in die „große Rezession“. Kurz: ein gewaltiger „Betriebsunfall“ durch menschliches Versagen.

Die systemische Alternativsicht: Die große Krise ist Ergebnis von „business as usual“ auf den Finanzmärkten. Diese produzieren nämlich Abfolgen von „Bullen-und Bärenmärkten“. In den Bullenmärkten steigen Aktienkurse, Rohstoffpreise, Zinssätze, Wechselkurse oder Immobilienpreise exzes-Wechselkurse oder Immobilienpreise exzessiv, in den Bärenmärkten sinken sie (daher) exzessiv.

Im Jahr 2008 fallen drei Bärenmärkte zusammen: Die Preise von Aktien, Rohstoffen und Immobilien stürzen ab, nachdem sie davor jahrelang gestiegen waren, die drei Im Jahr 2008 fallen drei Bärenmärkte zusammen: Die Preise von Aktien, Rohstoffen und Immobilien stürzen ab, nachdem sie davor jahrelang gestiegen waren, die drei wichtigsten Vermögensarten werden gleichzeitig entwertet.

Dies war zuletzt 1929 passiert. Die US-Politik braucht nur ein paar Tage, um die Gefährlichkeit dieser Entwicklung – durch die Lehman-Pleite im September 2008 akut verschärft – zu begreifen und alle Tabus über Bord zu werfen. In Europa reagiert man viel langsamer und beginnt schon 2010 wieder mit der Sparpolitik. Auch lässt man den Finanzakrobaten freie Hand, die Zinsen für die Länder Südeuropas in unfinanzierbare Höhen zu treiben. So wird aus der Finanzkrise die Eurokrise.

Diese begreift Europa als Staatsschuldenkrise und bekämpft das Symptom mit dem Fiskalpakt. Das zweite Hauptsymptom der Systemkrise, die Arbeitslosigkeit, bekämpft man mit Lohnsenkung und Deregulierung der Arbeitsbeziehungen. Europa schlittert in eine Depression.

Gleichzeitig boomen die Aktienmärkte mehr denn je, bis Mitte 2015 verdreifachen sich die Kurse und bauen so ein enormes Absturzpotenzial auf. Dies gilt – in geringerem Ausmaß – auch für die Immobilienpreise. Diese sind diesmal auch in Ländern wie Deutschland und Österreich kräftig gestiegen. Nachdem die Rohstoffpreise schon seit einem Jahr einbrechen, sinken die Aktienkurse seit Anfang 2016 in rasantem Tempo – nach gängiger Definition hat ein Bärenmarkt begonnen.

Sollten die Aktienkurse in gleichem Ausmaß fallen wie in den beiden letzten Bärenmärkten (2000 und 2008), also um etwa 50 Prozent, dann werden auch die Kurse der (Staats-)Anleihen und die Immobilienpreise unter Druck geraten. Folge: Die Depression in Europa vertieft sich massiv.

Denn die manisch-depressiven Finanzmärkte sind alles andere als „abgekoppelt“ von der Realwirtschaft: Kursverluste entwerten das Pensionskapital – dieses hat durch Abbau des Sozialstaats und eine „Lassen wir unser Geld arbeiten“-Politik enorm an Bedeutung gewonnen. Also werden die Betroffenen ihren Konsum einschränken. Die Bilanzen der Banken werden „zusammengestaucht“, ihr Eigenkapital entschwindet – gegen mächtige „Bären“ helfen keine Basel-Regeln. Die Unternehmen haben in den letzten Jahren mehr in Finanz- als in Realkapital investiert. Wird Ersteres entwertet, werden sie ihre Investitionen weiter einschränken.

Die Europäische Zentralbank weiß um die Gefahr und verspricht weitere „Geldschwemmen“, schließlich hatten diese den Aktienboom ja beflügelt. Kurzfristig kann das die Börsen aufputschen, langfristig einen Bärenmarkt aber nicht verhindern.

Wer aus der Erfahrung nichts lernt, muss sie wiederholen, allerdings unter viel schlechteren Ausgangsbedingungen als vor sieben Jahren: In der EU sind Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung um ein Drittel höher als damals, mit dem Fiskalpakt hat sich die Politik selbst in einen Käfig gesperrt und den Schlüssel rausgeworfen. Konjunkturpakete wird’s nicht geben und statt Bankenrettungen bekommen die Sparer Aktien ihrer Bank.

Das schlimmste Szenario: In ihrer Not steigen einzelne (süd-)europäische Länder aus dem Euro aus und versuchen, ihre Wettbewerbsfähigkeit durch Abwertungen zu verbessern, andere Länder ziehen nach, die Währungsunion zerfällt, es herrscht Wirtschaftskrieg in Europa.

Offenbar braucht es eine massive Verschärfung der Krise, um den Lernwiderstand der Eliten zu brechen. Seine Stärke ist enorm, besonders in Deutschland. Noch nie hat eine ökonomische Doktrin so lange Universitäten, Medien und die Politik dominiert wie der Neoliberalismus, von den neoklassischen „Chicago Boys“ wie Milton Friedman bis zur „österreichischen Schule“ von Hayek und Co. Die heute 30-bis 60-jährigen Ökonomen wurden in dieser Weltanschauung geschult, und sie sitzen an allen Schaltstellen der Macht („It’s the economist, stupid!“).

Die Vorstellung, dass die „freiesten“ Märkte, die Finanzmärkte, an manisch-depressivem Irresein laborieren und systematisch falsche Preise produzieren, ist für Ökonomen undenkbar. Dann wäre die gesamte Restaurationsarbeit von mehr als fünfzig Jahren für die Katz gewesen. Und mit der Vorstellung, jahrzehntelang ausgeklügelten Unsinn gelehrt zu haben, geht kein Professor gerne in Pension.

Für Unternehmer und Unternehmervertreter Für Unternehmer und Unternehmervertreter Für Unternehmer ist es undenkbar, dass der Neoliberalismus nicht ihre genuinen Interessen legitimiert, sondern jene des Finanzkapitals. Schließlich haben sie ihn vor vierzig Jahren selbst – bedrängt von Sozialdemokratie, GewerkFür Unternehmer und Unternehmervertreter ist es undenkbar, dass der Neoliberalismus nicht ihre genuinen Interessen legitimiert, sondern jene des Finanzkapitals. Schließlich haben sie ihn vor vierzig Jahren selbst – bedrängt von Sozialdemokratie, Gewerkschaften und einem wachsenden Sozialstaat – als ihre Ideologie begrüßt. Die Geister, die sie riefen, werden sie nun nicht los.

Auch Journalisten komponieren seit langem Texte mit den Bausteinen Freiheit, Eigeninitiative, Entfesselung, Wettbewerbsfähigkeit, marktgerecht, Selbstverantwortung, alternativlos, Strukturprobleme und -reformen, mehr privat, weniger Staat, soziale Hängematte. Sie agieren als Hayeks „Secondhanddealer“ neoliberaler Ideen, quasi als Marionetten der Freiheit – wie sollen die Unabhängigen ihre (Selbst-)Instrumentalisierung reflektieren?

Und die Politiker: Würden sie – Sozial- und Christdemokraten – den Zweifel an der Richtigkeit ihrer Politik zulassen, so müssten sie sich mit der Frage konfrontieren: „Sind wir mitschuldig an der Not von Millionen Menschen?“ Das ist (noch) zu viel verlangt. Innerhalb eines Denksystems kann man das Denksystem selbst nicht als Krisenursache erkennen.

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