Der Staat und der Kampf um die Grenzen

am 28.10.2015

„Tief durchatmen!“, titelte meine Kollegin Barbara Tóth vergangene Woche im Falter. Die Flüchtlingsdebatte, so klagte sie, werde zu hysterisch geführt, der Morbus Sarazzin, also die Angst vor Islamisierung und Selbstabschaffung habe die Bürgerlichen infiziert und greife auf das linksliberale Milieu über. Ohne empirische Faktenlage würden Ängste geschürt. „Ich kann es ehrlich gesagt schon nicht mehr hören“, sagt Tóth und forderte, man solle das Flüchtlingsthema „politisch erledigen“.

Leicht gesagt. Darüber wird man reden müssen. Die Flüchtlingspolitik wird eine der wichtigsten Herausforderungen der nächsten zehn Jahre. Integrationspolitisch, sozialpolitisch und vor allem auch staatspolitisch.

Beginnen wir bei der Integrationspolitik: Die Rechte, aber zunehmend auch die Linksliberalen, so die Kritik der Linken, setze auf eine „homogene Gemeinschaft“, die entweder völkisch oder romantisch definiert werde. Beides führe in die Sackgasse.

Das ist ein Irrtum. Irgendeine Gemeinsamkeit werden wir finden müssen, um eine Gesellschaft zu konstituieren. Gerade erfolgreiche Einwanderungsnationen setzen auf mitunter romantischen Symbolismus. Die USA fordern ihren Neo-Bürgern nicht nur perfekte Sprachkenntnisse und Verfassungstreue ab, sondern zwingen sie auch dazu, „the good order and happiness of the United States“ zu unterstützen.

In Kanada, einer weiteren erfolgreichen Einwanderungsgesellschaft, müssen Muslimas bei der Zeremonie neuerdings den Niqab ablegen und Gesicht zeigen, wenn sie die Staatsbürgerschaft wollen. In Frankreich gibt es seit jeher das Kopftuchverbot in der Schule, der Laizismus des Staates ist der gemeinsame Nenner der Citoyens, der autochtonen und der aus Nordafrika zugewanderten.

Das führt zur Sozial-und Bildungspolitik: Genau hier darf die Linke (gibt’s die eigentlich noch?) die Debatte eben nicht „gelassen“ führen und den Rechten überlassen, weil die träumt angesichts von 400.000 Arbeitslosen von sozialpolitischer Apartheid. Es ist schon paradox, dass dieser Tage in Österreich ausgerechnet der liberale Peter Rabl den Roten vorrechnen muss, welche Anforderungen die Einwanderungswelle an den Sozialstaat stellen wird (siehe Seite 12).

In Deutschland erledigt das die rote Sozialministerin, ihr Pendant Rudolf Hundstorfer grantelt in Interviews nur desinteressiert herum und sieht „keinen Änderungsbedarf“. Bleibt die Debatte um den Rechtsstaat. Und damit sind wir buchstäblich an unseren Grenzen angelangt, in Spielberg, wo Zehntausende „durchmarschieren“, wie die Krone es nennt. Wer illegal ins Land wollte, musste sich bis vor Kurzem schon in den Kühlwagen der Schlepper setzen und sein Leben riskieren. Damit ist es, Gott sei Dank, vorbei. Jetzt gehen die Massen einfach weiter, zum ganz überwiegenden Teil friedlich – und die Polizei sieht ihnen dabei zu. Ein Grund, die Festung Europa herbeizusehnen, wie es die Innenministerin jetzt tut?

Dass die Polizei nicht mit Wasserkanonen oder Tränengas anrückt, kann man den vor Ort agierenden Verantwortlichen nicht hoch genug anrechnen. Die Polizei, nein, das ganze Land macht ja einen Lernprozess durch. Wir erkennen, was uns von autoritären Staaten unterscheidet: das Prinzip der Verhältnismäßigkeit, eine Art von Gelassenheit, wenn man so will.

Jeder Jurist lernt diesen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in der Ausbildung. Der Staat, so die Lehre, muss seine Rechte nicht zu jeder Zeit um jeden Preis sofort durchdrücken. Ein Staat, der wirklich über Autorität verfügt, darf auch mal Zurückhaltung demonstrieren, zumal wenn autoritäres Handeln größeren Schaden anrichten würde als moderates.

Ein moderner Staat erkennt zum Beispiel an, dass es höhere Rechtsgüter gibt: etwa das Recht auf körperliche Unversehrtheit einer Menschenmasse, die zu einem beträchtlichen Teil aus Kindern, Müttern und Schwachen besteht. Man darf sie nicht mit Wasserwerfern oder Tränengas beschießen, wie dies in Ungarn geschah.

Sehen wir die ständigen Grenzüberschreitungen positiv. Unsere Polizei wägt ab, deeskaliert, schützt Menschen statt Grenzen.

Die Kontrollen, so werden aber umgekehrt viele Einwanderer und ihre Fürsprecher in den nächsten Monaten lernen, sind deshalb nicht abgeschafft, sie werden bloß ins Landesinnere verlegt. Flüchtlinge, die hier leben wollen, werden sich einem -hoffentlich fairen – fremdenrechtlichen Verfahren stellen müssen, an dessen Ende auch eine Abschiebung stehen kann. Flüchtlinge dürfen wir uns nicht aussuchen, Einwanderer schon.

Die Institutionen des Rechtsstaates dürfen, so wie Einrichtungen des Bildungswesens, nicht unter der Quantität der Antragsteller zusammenbrechen. Wir müssen daher genau jetzt darüber reden, wie wir den Hilfsbedürftigen helfen, die ausgebombt und traumatisiert sind. Und wie wir sie von jenen unterscheiden, die nicht verfolgt werden, aber die Wirrnisse nutzen, um ohne Pass einzuwandern. Das kann auf Dauer nicht funktionieren.

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