Wir müssen über Abtreibungen reden

am 24.07.2013

Zuerst eine höchstpersönliche Bemerkung, denn in der Abtreibungsdebatte prägt das Private die politische Meinung.

Ich bin aus der Kirche ausgetreten, weil Kardinal Christoph Schönborn es für eine Sünde hielt, dass die Uno an vergewaltigte Kosovarinnen die Pille danach verteilt. Ich halte die Vorstellung, dass tausende missbrauchte Frauen auch noch zur Geburt gezwungen werden, für unmenschlich.

Das ändert nichts daran, dass ich heute ein massives Problem mit Schwangerschaftsabbrüchen habe. Das war nicht immer so. Ich hielt Abtreibungen für etwas Unspektakuläres, eine Entfernung von Zellhaufen. Als ich den Herzschlag meiner Zwillinge im Ultraschall gesehen hatte, begann ich an meiner Überzeugung zu zweifeln. Ich lernte, dass Kinder ab der zwölften Woche schlucken und gähnen können. Hätte meine Frau abgetrieben, wäre ich als Vater zerbrochen.

Ich stehe seither meist im Abseits, wenn Linke und Rechte über Abtreibung debattieren. Es ekelt mich an, wenn „Lebensschützer“ gegen Frauen und Ärzte hetzen. Es überzeugt mich aber auch nicht, wenn man heranwachsende Menschen als „fetales Gewebe“ bezeichnet, wie es Ärzte tun, um für sich und ihre Patientinnen Distanz zu schaffen. Wäre ich Arzt, könnte ich aus Gewissensgründen keine Abtreibung durchführen, es sei denn, um Leben zu retten.

Ich bin überzeugt davon, dass die hohe Abtreibungsrate in Österreich kein Naturgesetz ist, sondern Ergebnis schlechter Politik. Wir müssen die Debatte endlich aus der Geiselhaft der Kirchenfürsten und aus dem Diskurs der 1970er-Jahre befreien und fortschrittlicher führen. Im Interesse der Frauen und der Ungeborenen. Die hohe Abtreibungsrate kann und muss gesenkt werden – ohne dass Frauen dabei Schaden nehmen.

Die unerträglichen Vergleiche der Abtreibung mit Massenmord und NS-Euthanasie durch kirchliche Würdenträger und Politiker haben die Debatte tabuisiert, die Positionen festgefahren. Dasselbe gilt für Versuche, das Strafrecht in Stellung zu bringen. Zuletzt versuchte das ein Irrlicht auf der Gastkommentarseite der Presse.

Schauen wir uns ein paar Zahlen an: Während in Deutschland und den Niederlanden (wo es breite Aufklärung und kostenlose Verhütungsmittel gibt) nur 0,8 Prozent der gebärfähigen Frauen abtreiben, sind es in Österreich dreimal so viele. Vor allem unterprivilegierte Frauen, so lernen wir gerade wieder, setzen ihr Leben aufs Spiel. Nicht nur weltweit (es sterben jährlich rund 70.000 Frauen bei Abtreibungen), sondern auch bei uns.

Womit wir am Wiener Spittelberg angekommen sind. Die Wiener Patientenanwältin Sigrid Pilz hat dieser Tage den Fall einer Abtreibungsärztin im siebten Bezirk aufgedeckt, die Dutzende Frauen schwer verletzt und unfruchtbar gemacht haben soll (die Ärztin dementiert das).

Seit den 1980ern kennt die Ärztekammer die Ordination dieser Frau, die man früher als „Engelmacherin“ bezeichnet hätte. Im Kurier war schon 1996 von blutenden Frauen im Stiegenhaus vor besagter Praxis die Rede. 16-mal fuhr die Rettung in den letzten Jahren zu der Praxis, um Frauen in Spitäler zu bringen. Konsequenzen: null.

Dieser Kriminalfall und die fehlende Selbstreinigungskraft in der Ärztekammer ist nicht nur ein Fall für die Gerichte, sondern auch für die Politik: Welche Frauen waren auf diese Ordination angewiesen? Wieso durften sie nicht in öffentliche Spitäler gehen? Welche Frauen treiben überhaupt ab und warum?

Wer diese Frage beantworten will, lernt, dass es in unserem seit Jahren rot regierten Land keine aktuellen Studien zum Schwangerschaftsabbruch in Österreich gibt. Die Linke verzichtet hier auf die Analyse gesellschaftlicher Zustände. Die letzte Untersuchung stammt aus den 1980er-Jahren und beschreibt das Sexualverhalten der heute 50-bis 70-Jährigen vor 30 Jahren. Das sind Frauen, die von der sexuellen Revolution geprägt waren.

Die Patientinnen, die am Spittelberg behandelt wurden, zählten zu einer neuen Unterschicht: afrikanische Prostituierte, Asylwerberinnen, Migrantentöchter, die nur 300 Euro für den Eingriff zusammenkratzen konnten; die Hälfte dessen, was in guten Ambulatorien gezahlt wird.

Sie alle haben Unerträgliches ertragen. Etwa „diesen Saal, in dem andere Patientinnen mit gespreizten Beinen vor den Augen der anderen aufwachen mussten“(Pilz).“Es muss sich ja jemand um diese armen Frauen kümmern“ hieß es einmal in einem Disziplinarverfahren gegen die Ärztin.

Das stimmt. Der Wohlfahrtsstaat ist gefordert. Zunächst hat er bessere Bedingungen für jene Frauen zu schaffen, die abtreiben wollen. Zu Recht merkte Sibylle Hamann in der Presse an, dass Kontrollore einem Zahnarzt solche Hygienemissstände nie hätten durchgehen lassen.

Der Fall zeigt, dass Abtreibungen in öffentlichen Spitälern durchgeführt werden sollten, auf Krankenschein. Die Konservativen sind allerdings dagegen. Sie wetterten ja sogar dagegen, dass mit einem Medikament abgetrieben werden kann. Die Frau soll bitte schön leiden, am besten mit Ewald Stadler am Bett, der dabei einen Plastikembryo schwingt (der wirre EU-Parlamentarier schenkt seinen Kolleginnen in Brüssel tatsächlich Plastikföten zu Weihnachten).

Die beste Abtreibung ist freilich jene, die nicht stattfindet. Dafür braucht es Aufklärung über Verhütung. Doch die findet offenbar nicht statt. Der Anteil der 14-bis 19-jährigen Mädchen, die abtreiben, hat sich seit 2005 verdreifacht und liegt bei zwölf Prozent, stellt etwa die Abtreibungsambulanz pro:woman fest. Viele Mädchen leben in dem Glauben, man könne beim ersten Mal nicht schwanger werden. Moderne, multikulturelle Sexualpädagogik muss endlich den roten Kopf des Klassenvorstands ablösen. ÖVP, BZÖ und FPÖ hatten erst kürzlich eine Aufklärungsbroschüre skandalisiert, weil sie die „Kernfamilie“ diskreditiert habe.

Es ist paradox: Die Generation Youporn ist erstaunlich ahnungslos, was Verhütung anbelangt. Kaum wer hilft den Buben dabei, jene kondomfreien Szenen einzuordnen, die sie sich mit dem iPhone herbeiklicken – und die sie vielleicht im Rausch der Nacht von den Partnerinnen erbetteln.

Dazu kommt, dass immer mehr Mädchen in einem religiös geprägten Migrantenumfeld so prüde erzogen werden wie Frauen bei uns in den 1950ern. Der Feminismus ist an vielen Einwandererfamilien vorbeigegangen. Töchter werden zu Hause eher „über die Unversehrtheit des Jungfernhäutchens als über den Gebrauch von Kondomen unterrichtet“, sagt Sigrid Pilz.

Noch etwas fällt auf: Jede sechste Frau unterbricht die Schwangerschaft, weil sie zu arm ist. Die Unterstützung alleinerziehender Mütter muss daher massiv ausgebaut und beworben werden. Die Konservativen wehren sich allerdings auch dagegen.

Nicht einmal kostenlose Verhütungsmittel sind – anders als in anderen EU-Ländern – bei uns Konsens. Die grüne Abgeordnete Judith Schwentner erzählt vom „Wo kommen wir da hin?“-Gejohle, wenn darüber im Nationalrat diskutiert wird.

Österreich ist seit der Abtreibungsreform in den 1970ern multikultureller und freizügiger geworden. Die Wissenschaft hat Verblüffendes über den Beginn menschlichen Lebens erforscht. Die Verhütungsindustrie ist in die Supermärkte vorgedrungen.

Die Abtreibungsdebatte aber ist seit der Fristenlösung der 1970er schockgefroren. Das wird modernen Ansprüchen nicht mehr gerecht. Das schadet Frauen und Ungeborenen.

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