„Ich war ein echter Schläger“

Putin verstehen – Teil I. Vladimir Putin galt als Demokrat und bewunderte Augusto Pinochet. Nachdem er sich ins Präsidentenamt trickste, beginnt er mit einer Seilschaft hartgesottener KGB-Leute, Russland zur autokratischen Despotie umzuwandeln.


ROBERT MISIK

06.04.2022

Vladimir Putin und Boris Jelzin am 31. Dezember 1999, als Jelzin sein Amt niederlegte und Putin das Präsidentenamt erst interimistisch übernahm. Foto: Wikimedia Commons / Kremlin.ru / CC BY 3.0

„Ein Hooligan“, sei er gewesen, erzählte Vladimir Putin in einem Interview vor mehr als zwanzig Jahren, auf seine Jugendtage angesprochen. Auf die ungläubige Frage des Interviewers, ob er damit nicht ein wenig übertreibe und flunkere, erwiderte Putin: „Wollen Sie mich beleidigen? Ich war ein echter Schläger.“ Masha Gessen, die amerikanische Journalistin russischer Herkunft, erinnert in ihre Biografie „The Man Without a Face: The Unlikely Rise of Vladimir Putin“ an diesen Wortwechsel. (Siehe hierzu: What is Driving Vladimir Putin?)

Putin selbst ist immer wieder auf diese Geschichten zurückgekommen, hat die Straße „meine Universität“ genannt. Er habe viele Schläge einstecken müssen und auch entwürdigende Erfahrungen gemacht. Mehrere Schlüsse daraus gezogen, erzählt er gerne, etwa, dass man einen guten Grund brauche, um eine Schlägerei zu beginnen. Unter den vier Grundsätzen, die er aus seiner Gangsterzeit mitgenommen habe, ist auch „Schluss Nummer drei: Ich habe gelernt, dass man – egal ob ich im Recht war oder nicht – stark sein müsse. Ich musste in der Lage sein, dagegenzuhalten… Schluss Nummer vier: Es gibt keinen Rückzug, du musst bis zum Ende kämpfen. Letztendlich war es das auch, das ich später im KGB gelernt habe, aber im Grunde wurde mir das schon viel früher beigebracht – in diesen Kämpfen als Junge.“ (Zitiert nach: Mr. Putin: Operative in the Kremlin, by Fiona Hill and Clifford G. Gaddy)

Vielleicht gibt uns diese Geschichte einen Einblick in das Denken von Vladimir Putin, wie er „tickt“. Vielleicht aber auch nur, wie er gesehen werden will. Denn, daran erinnern Fiona Hill und Clifford G. Gaddy in ihrem Buch „Mr. Putin: Operative in the Kremlin“, es sind die Geschichten, wie sie Putin selbst erzählt. Vieles aus Putins Vergangenheit liegt im Dunkeln, ist von Geheimniskrämerei umgeben, voller schwarzer Flecken, und der KGB-Mann (und Kontrollfreak) Putin lässt ja nichts zufällig raus. Er erzählt Geschichten nicht ohne Absicht, seit Beginn seines Aufstiegs basteln er und seine Entourage und seine Spin-Doctoren auch am öffentlichen Image von Putin herum. Dabei wird nichts dem Zufall überlassen, nichts ist ohne Absicht. Wenn Putin hier das Bild eines Mannes zeichnet, der als Straßengangster begonnen hat, nie aufgeben wird und eine Schlägerei bis zum bitteren Ende führen wird, weil Aufgeben keine Option sei – dann will er genau so wahrgenommen werden. Kurzum: Er will, dass andere vor ihm Angst haben.

Man muss das bei den Quellen, die uns zur Verfügung stehen, immer mitbedenken. Bei jeder „Entdeckung“, die man in den Archiven macht, muss man im Kopf haben, dass er möglicherweise will, dass wir diese „Entdeckung“ machen.

Der vierundzwanzigste Februar, der Tag, an dem die russischen Invasionstruppen die Ukraine überfielen, hat die gesamte Existenz verfremdet. Nicht nur der große Massenkrieg ist in die Geschichte zurückgekehrt, nach Europa. Das größte Land des Kontinents hat immerhin das zweitgrößte Land des Kontinents überfallen. Aber auch die Illusion einer relativen Friedensordnung ist zu Ende – also das Vertrauen auf eine Architektur, in der grosso modo Gewaltfreiheit in den europäischen Beziehungen herrscht, wenngleich es in Kapillaren und Peripherie zu Kriegen kommen kann. Eine neue Großkonfrontation ist plötzlich wieder denkbar.

Wer ist also dieser Putin? Was treibt ihn an? Was sind seine ideologischen Anschauungen? Welcher Geist motiviert die russischen Machthaber, also das Konglomerat aus mächtigen Akteuren im inneren Machtapparat, die Eliten drum herum, welche Selbstbilder bestimmen die öffentliche Meinung, welche Ansichten von der Welt, und wie tief ist das ins Bewusstsein „normaler“ Russen gedrungen? Wie sehr ist das Land im Griff einer Propaganda? Und wer sind die Leute um Putin herum? Gibt es die überhaupt noch? Oder hat er nach und nach eine Tyrannei etabliert, die in eine Ein-Personen-Herrschaft übergegangen ist? All das sind Fragen, mit denen wir uns plötzlich beschäftigen müssen und die die allermeisten im Westen allzu lange offenbar ignoriert haben – sodass es darauf keine völlig befriedigenden und sicheren Antworten gibt.

Spulen wir zurück. Es ist der 31. Dezember 1999. Der letzte Tag des Jahrtausends. Boris Jelzin, der erste Präsident der russischen Föderation tritt überraschend zurück. Niemand hatte damit gerechnet. Aber er – und seine Entourage – verfolgen einen Plan. Er übergibt die Präsidentschaft verfassungsgemäß an den Premierminister, an Vladimir Putin, der zu diesem Zeitpunkt noch keine fünf Monate als Ministerpräsident amtiert. Putin ist tatsächlich ein „Mann ohne Gesicht“. Er ist nicht völlig unbekannt, aber bei weitem nicht so eine exponierte Figur wie viele andere Spitzenpolitiker Russlands.

Jelzins Umfragewerte liegen im Keller. Jelzin war in den achtziger Jahren der Ungestümste der Reformer in der KPdSU, war Moskauer Parteichef, wird aus dem Politbüro ausgeschlossen, gilt als der Demokrat unter den Spitzenkommunisten. Als die alte Garde gegen Michail Gorbatschow und seine Öffnungspolitik putscht, ist es Jelzin, der den Umsturz zum Scheitern bringt. Es sind pathetische Bilder, als der bullige Jelzin auf einen Panzer klettert und eine Rede hält und den Staatsstreich scheinbar mit seinem Körper, mit seiner Präsenz, besiegt. Mit dem gescheiterten Putsch kehrt aber nicht Gorbatschow an die Macht zurück, die reale Macht geht vom Präsidenten der Sowjetunion und dem KP-Chef Gorbatschow an den Präsidenten der russischen Föderation, Jelzin über. Die Sowjetunion löst sich auf, auch an der Peripherie Russlands beginnen Abspaltungen. Es sind die Jahre des chaotischen Zerfalls, an den Rändern, aber auch im Inneren. Wenn die Ordnung zerfällt, tun alle, was sie wollen. Die Wirtschaftsleistung fällt, einige werden schnell reich, bringen auf kriminelle Weise Volksvermögen ins Ausland, sacken sich Reichtümer ein, oder nützen die Gunst der Stunde, schlecht vorbereitete Privatisierungen, um sich für wenig Geld Milliardenvermögen anzueignen. Teilweise bricht die Versorgung zusammen, die Institutionen blockieren sich, Jelzin lässt auf das Parlament schießen.
Putin, zuvor als KGB-Mann in Dresden, landet als stellvertretender Bürgermeister in Sankt Petersburg, seiner Heimatstadt, wo er am Stadtrand, in Trabantenstädten, in einer Arme-Leute-Gegend aufgewachsen ist und als Straßenrowdy das Leben kennen gelernt hat. Der Bürgermeister, Putins Chef, ist damals Anatoli Sobtschak, ein ehemaliger Rechtsprofessor, der Anführer der Demokraten, der berühmteste russische pro-westliche Reformer. Er ist eine strahlende Figur, ein großer Redner, aber offenbar kein besonders guter Organisator. Dafür hat er Putin, seinen Stellvertreter, der lautlos all die Dinge erledigt, für die Sobtschak kein besonderes Talent hat. Putin ist Sobtschaks „Fixer“, der, der die Dinge erledigt – später wird er diese Charaktereigenschaft, dieses Image kultivieren.

Putin tut sich mit der Mafia zusammen, die damals den Hochseehafen in Sankt Petersburg in der Hand hat. Putin ist mit seinen KGB-Leuten verbunden, zugleich schließt er Bündnisse mit dem organisierten Verbrechen. Es wird ein Muster, das wohl beibehalten wird. Zugleich baut es schon auf Mustern aus der Vergangenheit auf. Es lag ja in der Natur der Geheimdienste, dass sie über etablierte, klandestine Kanäle verfügten, um Waren ins Land zu schleußen, westliche Technologien zu beschaffen, Gelder im Gegenzug ins Ausland zu transformieren, all die Dinge, die in der Sowjetunion nötig waren, um das Land am Laufen zu halten. Diese Kanäle waren da, sie waren weiter brauchbar. Ob man schwarze Kassen und sinistre Kanäle für die Staatwirtschaft oder für die private Bereicherung benützt, egal, sie funktionieren. Die Allianzen, die Putin mit den Paten der kriminellen Schattenwirtschaft und den mafiösen Neureichen schließt, sie sind mit vielen Geheimnissen umgeben. Ins Rampenlicht tritt der kleine, eher zart gebaute Mann sowieso nicht. Als Sobtschak später abgewählt wird, wechselt Putin nach Moskau in den Kreml, auf einen Organisationsposten im Präsidentenstab. Dort steigt er schnell auf. „Er war folgsam wie ein Hündchen“, so Sergej Pugatschow, damals im Kreml eine große Nummer. (zitiert nach: Catherine Belton: Putins People. How the KGB Took Back Russia and Then Took on the West)

Putin rückt zum stellvertretenden Stabschef auf, danach zum Chef des Inlandsgeheimdienstes FSB, dem Nachfolger des KGB. Als er Premierminister wird, übernimmt sein Kumpan Nikolai Patruschew als Chef des Geheimdienstes. Einige Jahre später wird er unter Präsident Putin Chef des Nationalen Sicherheitsrates. Mit Putin übernehmen die alten KGB-Seilschaften die Macht. Aber noch ist Putin ein unbeschriebenes Blatt und er gilt als Demokrat und Liberaler. Immerhin kommt er aus Sobtschaks Stall. Und Sobtschak war der Posterboy der Demokraten. Jelzin macht Putin zu seinem Nachfolger, um den Demokraten die Macht zu retten. Denn ohne waghalsiges Manöver hätten, so die Befürchtung, Leute wie KP-Chef Sjuganow, der Moskauer Bürgermeister Luschkow oder der alte KP-Haudegen Primakow die besten Chancen auf einen Sieg bei der Präsidentschaftswahl gehabt. Die Jelzin-Leute hatten Angst, dass dann das Rad zurückgedreht wird, dass der alte Machtapparat zurückkommt (und außerdem, dass für ihre eigene Korruption juristisch belangt werden). Es ist, nachträglich gesehen, ein Treppenwitz der Geschichte: Um die Rückkehr der alten KP-Seilschaften und der Staatswirtschaft zu verhindern, hat man Putin und seinen KGB-Leuten die Tür geöffnet. Es sollte eine fatale Fehleinschätzung sein.

Was Putin und seine KGB-Truppe auszeichnet ist mehrerlei: List, die Fähigkeit, langfristige Pläne zu verfolgen und ausreichende Brutalität.
Putin legt in einer Fernsehansprache und einem großen Essay – bekannt unter dem Titel „Millennium Botschaft“ – zum Zeitpunkt seiner Amtsübernahme 1999 seine Sicht dar. Russland ist als Macht abgestiegen, spielt nicht einmal mehr eine zweit-, sondern eine drittrangige Rolle, die Ordnung im Staat ist zerfallen. Sie müsse wieder hergestellt werden, erklärt er.

„Es wird nicht so bald geschehen – falls es überhaupt jemals geschieht – dass Russland eine zweite Ausgabe von, beispielsweise, den USA oder Großbritannien wird, deren liberale Werte tiefe historische Traditionen haben“, schrieb er. „Für Russen ist ein starker Staat keine Abnormalität, die man loswerden will. Im Gegenteil, sie sehen ihn als Quelle und Garant der Ordnung an und als Initiator und hauptsächliche Triebkraft für jeden Wandel.“ (Quelle)

Bereits 1993 hatte Putin – damals noch stellvertretender Bürgermeister von Sankt Petersburg – keinen Hehl aus seinen Auffassungen gemacht. Damals hatte das „Neue Deutschland“, die ehemalige Tageszeitung der DDR-Staatspartei SED, über eine öffentliche Debatte folgendes zu berichten gewusst, eine Notiz, die weitgehend unterging, da niemand den unbekannten Funktionär als besonders bedeutend wahrnahm:

„Wladimir Putin, Zweiter Bürgermeister von Sankt Petersburg und Vorsitzender des Komitees für Außenbeziehungen der Sechs-Millionen-Stadt, hat vor deutschen Wirtschaftsvertretern deutlich gemacht, dass eine Militärdiktatur nach chilenischem Vorbild die für Russland wünschenswerte Lösung der gegenwärtigen politischen Probleme wäre.

Putin antwortete auf Fragen von Vertretern von BASF, Dresdner Bank, Alcatel und anderen, die im ehemaligen Petersburger DDR-Generalkonsulat zusammentrafen.
Dabei unterschied Putin zwischen „notwendiger“ und „krimineller“ Gewalt. Kriminell sei politische Gewalt, wenn sie auf die Beseitigung marktwirtschaftlicher Verhältnisse abzielen, „notwendig“, wenn sie private Kapitalinvestitionen befördere oder schütze. Er, Putin, billige angesichts des schwierigen privatwirtschaftlichen Weges eventuelle Vorbereitungen Jelzins und des Militärs zur Herbeiführung einer Diktatur nach Pinochet-Vorbild ausdrücklich.
Putins Ausführung wurden sowohl von den deutschen Firmenvertretern als auch von dem anwesenden stellvertretenden deutschen Generalkonsul mit freundlichem Beifall aufgenommen.“ (Quelle)

Es ist ein Kreis von Hardlinern aus den Sicherheitsdiensten, allen voran aus Putins KGB-Seilschaften, der nach dem Amtsantritt Putins zur Jahrtausendwende vor 22 Jahren die Geschicke im Kreml bestimmt und die Macht immer mehr konsolidiert hat. Und am Ausgangspunkt von all dem steht Krieg. Mit dem Krieg gegen Tschetschenien, der abtrünnigen Provinz im Nordkaukasus, begann Putins Machtspiel. Bombenanschläge in mehreren Wohnhausanlagen in Moskau wurden tschetschenischen Terroristen angelastet, und es ist nie völlig aufgeklärt worden, ob diese Anschläge nicht vom KGB inszeniert wurden, um eine Intervention in Tschetschenien zu rechtfertigen. Jedenfalls erlaubte der Krieg Putin, sich als couragierten und entschlossenen Kriegsherrn mit volkstümlicher Sprache zu präsentieren („Wir werden sie in ihren Scheißhäusern ausräuchern“, erklärt er) und so seine vorher praktisch unmessbare Popularität so weit zu steigern, dass er die regulären Präsidentschaftswahlen im Mai 2000 zu gewinnen imstande ist und nun nicht mehr bloß als provisorischer Präsident, sondern erstmals als gewählter Präsident amtiert. Es gibt eine bizarre TV-Dokumentation vom Wahlabend: Boris Jelzin, der Putin ins Amt gehievt hatte, greift zum Telefon, um seinen politischen Ziehsohn zu gratulieren. Doch der ist nicht am Apparat und auch nicht greifbar. Ein Mitarbeiter wimmelt Jelzin ab und verspricht, Putin werde zurückrufen.

Doch der Anruf von Putin kommt nie. Jelzin, schon schwer gezeichnet, scheint dennoch zu dämmern: Der Schützling hat sich unabhängig gemacht.
Schritt für Schritt konsolidiert Putin seine Herrschaft. Die „Oligarchen“, also jene Freibeuter, die die Jahre der chaotischen Privatisierung genützt hatten, werden entmachtet, besonders jene, die unter Verdacht stehen, sie könnten in die Politik oder auch nur in die öffentliche Meinung eingreifen wollen, wie Boris Beresowski (der Mann, der mit seinem Medienimperium Jelzins zweiten Wahlsieg gesichert hatte, verlässt das Land und wird Jahre später in London tot in seinem Badezimmer aufgefunden, er hat seinen Lieblingskaschmirschal um den Hals geknotet) oder Michail Chodorkowski, der einstige KP-Jugend-Star, der bereits ab den achtziger Jahren im Wirtschaftskarussell zu Vermögen kommt (nach Jahren im Straflager lebt der einstmals reichste Mann Russlands nun in London im Exil). Die anderen dürfen ihr Vermögen behalten, wenn sie den Primat Putins akzeptieren und beim Umbau der Wirtschaft zu einem KGB-Kapitalismus mitmachen. Viel mitreden dürfen sie nicht mehr.

Die neuen „Oligarchen“ sind eigentlich keine mehr, sondern KGB-Funktionäre, die an die Spitze von Staatsbetrieben platziert werden und dort Putins korruptes System absichern. Sie sind keine Oligarchen, sondern üben sozusagen nur den Job des Oligarchen aus, was nicht heißt, dass sie sich nicht Milliarden auf die eigenen Konten verschieben dürfen. Die pluralistische, offene Gesellschaft wurde wie in einem schleichenden Putsch immer mehr abgewürgt. Oppositionelle wurden auf offener Straße erschossen, wie Boris Nemzow, oder die legendäre Journalistin Anna Politkowskaja, die in ihrem Treppenhaus abgeknallt wird, Kritiker oder abtrünnige Mitwisser mit chemischen Kampfstoffen vergiftet, und bei der „Befreiung“ von Geiseln während einer bis heute nicht gänzlich aufgeklärten angeblichen tschetschenischen Kommandoaktion wurde in Moskau mit Gas vorgegangen, was zum Tod von 130 Geiseln führte. Die letzten Putin-Gegner sind nach Sibirien deportiert, unabhängige Medien sind praktisch gänzlich ausgelöscht. Nach 22 Jahren Putin-Herrschaft hat sich wieder die Despotie über Russland gesenkt.

Wer im „System Putin“ heute wirklich die Macht hat, weiß niemand so genau. Sicher ist nur: Da ist Nikolai Patruschew, der Chef des Nationalen Sicherheitsrates, ein KGB-Mann, der seit bald dreißig Jahren an Putins Seite agiert; da ist Sergei Naryschkin, der Chef des Auslandsgeheimdienstes, der aber vor dem Einmarsch in die Ukraine bei einer inszenierten öffentlichen Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates vor laufenden TV-Kameras selbst von Putin lächerlich gemacht wurde; da ist Sergei Shoigu, der Verteidigungsminister, der Berichten zufolge auf den Posten kam, nachdem sein reformorientierter Vorgänger, der mit der Korruption in der Armee aufräumen lassen wollte, abgesetzt wurde (Fachleute halten es für durchaus möglich, dass die endemische Korruption im militärischen Komplex der Grund für die fragwürdige Performance des Militärs im Ukraine-Feldzug ist); da ist Igor Setschin, der schon in Sankt Petersburg als Putins Sekretär arbeitete, mit ihm dann in Jelzins Präsidialkabinett übersiedelte, und nun das Ölkonglomerat Rosneft leitet, das nach der Bündelung von einstigen Oligarchen-Firmen zu einem staatlichen Mega-Konzern wurde (Gerhard Schröder ist dort Aufsichtsratsvorsitzender). Setschin ist, auch seiner Mimik wegen, als „Dark Vader“ Russlands bekannt. Da ist Gazprom-Chef Alexei Miller, auch er aus Jelzins Sankt Petersburger Seilschaft – als Chef des Hochseehafens war er gewissermaßen Verbindungsmann zur organisierten Kriminalität. Da ist Putins Sprecher Dimitrij Petrov, längst mehr als ein Pressesekretär – seit 22 Jahren steht er schon dem Autokraten zur Seite.

Einige Hintergrundberichte zu den wichtigsten Männern in Putins Machtzirkel:

Wer aus diesem Clan tatsächlich Einfluss auf Putin hat, ob Teile dieser Gruppe Entscheidungen mit Putin kollektiv treffen, weiß heute niemand so genau. Noch einigermaßen fix ist, dass Patruschew der Einflussreichste aus dieser Truppe ist. Ideologisch dürfte es kaum Differenzen geben, eher ist anzunehmen, dass diese Schattenmänner aus den Sicherheitsdiensten noch radikaler als ihr Chef selbst sind. Allesamt sind sie radikale Konservative mit Schlagseite Richtung Faschismus, die Russland als antiwestliche Macht sehen, das Land als ideologischen Gegenspieler gegen die liberale, plurale Geisteswelt des Westens, als Bollwerk der christlichen Tradition, der Familienwerte usw. und die von der Demokratie nicht viel halten, dafür umso mehr von der autokratischen Tradition Russlands. Petruschew vertritt die antiwestlichen Ideen noch begeisterter und durchgeknallter als das Putin tut. „Vater und Mutter werden im Westen in Eltern Nummer Eins und Eltern Nummer Zwei unbenannt“, phantasiert Patruschew schon einmal, „Kinder dürfen sich ihr Geschlecht aussuchen und in manchen Gegenden ist man schon so weit, dass die Ehe mit Tieren legalisiert wird“. Bei Sitzungen flucht er und fährt die Leute mit Schimpfwörtern an, „und wenn du nicht zurückholzt, dann wird er dich nicht respektieren. Er versteht keine andere Sprache“, so berichtet eine Quelle Catherine Belton.

Die Führungsfiguren aus KGB- und Sicherheitsapparaten, die mit Putin gemeinsam an die Macht kamen, sind allgemein als die „Siloviki“ bekannt, gewissermaßen als „die Harten“, die „harten Männer“. Allgemein werden in Russland die Angehörigen der „harten“ Behörden – also Innen- und Verteidigungsministerium und Sicherheitsdienste – als „Hartleute“ bezeichnet. Ziemlich klar ist aber, dass der innere Kreis, mit dem Putin das Land führt, immer enger wird. Putin ist damit auch zunehmend isoliert, eine Abkoppelung von der Realität, die durch die Covid-19-Pandemie noch verschärft wurde. Berichten zufolge hat sich Putin mit noch weniger Menschen als sonst getroffen, wer zu ihm vorgelassen werden wollte, musste sich tagelang selbst isolieren.

Die grotesken langen Tische, mit denen Gesprächspartner auf Abstand gehalten werden, sind offenbar nicht nur Machtdemonstrationen, sondern auch zur antiviralen Gefahrenabwehr gedacht.

Je kleiner der Kreis einer verschworenen Truppe, deren Ideologie von der Vorstellung getragen ist, dass Russland vom Westen überrumpelt, bedroht, gefährdet ist, umso größer kann auch die Paranoia sein, in die sich ein immer kleiner werdendes Küchenkabinett selbst hineinschraubt. Prozesse der sukzessiven Selbstradikalisierung kleiner, selbstbezüglicher Gruppen, die sich nur mehr wechselseitig bestätigen, wären nicht das erste Mal in der Geschichte zu beobachten. Denkbar ist das alles, auch wenn es natürlich frappierende Brüche in der Logik gibt: Einerseits hält man den Westen für dekadent, ohne Werte, verzärtelt, wehrlos, post-heroisch quasi und damit für schwächlich, andererseits ist man besessen von der Idee, dieser Westen könnte Russland angreifen und überrollen? An sich ist das nicht wirklich schlüssig, aber andererseits, wenn man in einen ideologischen Tunnel einmal drinsteckt, ist alles schlüssig, da wirkt dann schon ein Indiz und dessen exaktes Gegenteil gleichzeitig als Bestätigung der eigenen Wahnideen.

Ob dieser engste Kreis der „Siloviki“ überhaupt noch ein akkurates Bild von der Realität erhält, ist fraglich. Öffentlich zugänglichen Nachrichten vertraut man nur beschränkt, da man annimmt, der Westen habe überall seine Finger drin und alles sei vom Feind inszeniert, somit also unglaubwürdig, andererseits gibt es – wie in autokratischen Tyranneien nicht ungewohnt – kaum mehr jemanden, der es wagt, den obersten Chefs oder gar dem Präsidenten die Wahrheit zu sagen. Dass Putin seit Jahren nur von Ja-Sagern umgeben ist, neben seiner höflichen Seite auch eine sehr jähzornige Ader hat und die Speichelleckerei genießt, ist allgemein bekannt. Dass ein Staatsführer, der seit Jahren von allen Seiten nur hört, wie großartig er sei, üblicherweise auch ein nahezu pathologisches gigantomanisches Selbstbild entwickelt, ist sowieso evident. Dazu muss man noch gar nicht eine besondere narzisstische Störung haben, die kommt dann, salopp gesprochen, von ganz alleine. „Irgendwann stieg ihm das zu Kopf“, meint Sergej Pugatschow. Leute hielten Toasts auf Putin mit Wendungen wie „du bist ein Geschenk Gottes“, wundert sich Pugatschow, „und er genoss das richtiggehend“ (zitiert nach Belton).

Putin verstärkte seinen Griff über sein Land, regierte mit harter Hand, legte Städte in Trümmer, ließ seine Kritiker vergiften – und dennoch kam er damit durch. In einem Prozess der Selbstradikalisierung positionierte er das schwache Russland, das er übernahm, als Herausforderer der liberalen, pluralistischen Demokratie und ließ keinen Zweifel daran, dass er Russland wieder zu imperialer Stärke führen würde. Und dennoch wurde er im Westen hofiert. Es ist nicht so, dass man das nicht gesehen hatte. Aber der Westen hatte keine Strategie (hätte in den Trump-Jahren auch keine zuwege gebracht), und so steckte man den Kopf in den Sand und hoffte, dass es schon nicht so arg kommen werde.

Dabei schaffte es Putin sogar, ein wenig populär zu erscheinen – sogar im Westen. Listig ist er ja, und seine keineswegs bedrohliche Statur, aber auch seine Fähigkeit, als selbstironisch rüber zu kommen, ließ viel zu viele in den Glauben, er wäre am Ende eben doch rational und ein gerader Michel. Man erinnere sich nur an die legendäre Szene in der Wirtschaftskammer, als er in Anspielung auf Christoph Leitls Langzeit-Amtsausübung den Scherz von „Diktatur, aber gute Diktatur“ machte.

Er sei autoritär, weil ein unregierbares Riesenreich eben einen gewissen Grad an Tyrannei brauche – so dachten manche, die der Entspannungspolitik anhängen und bis zuletzt auf die Überzeugung setzten, dass nicht geschossen wird, solange geredet werde. Andere im Westen waren noch mehr beeindruckt, von den Werten traditioneller „Männlichkeit“, die er inszenierte, und weil er gegen die Homoehe, den liberalen Mainstream, gegen die Nato wetterte, wurde er von der radikalen Rechten als ihr Pate anerkannt und von manchen Linken als Kämpfer gegen die US-Hegemonie bewundert – oder zumindest respektiert.

Dabei erwies er sich auch als virtuoser Könner, dem es bestens gelang, seine verschiedenen Zielgruppen zu bedienen. Verwirrung beim Gegner stiften, das lernt man beim KGB. Dass er perfekt deutsch spricht und als KGB-Statthalter in Dresden auch ein gewisses Gespür für westliche Diskurse entwickelte, hat ihm dabei sicherlich geholfen. Gelogen hat er oft genug – aber verdammt oft hat Putin auch offen gesagt, was er vorhat und wie er die Welt sieht und vor allem, wie er die Welt verändern möchte. Wir haben nur nicht gut genug zugehört. Er hat vor unser aller Augen und Ohren eine imperiale Ideologie entwickelt, die russisch-nationalistische, autokratische und spirituell-religiöse Elemente vereinte. Wir wollten es nur nicht hören. Oder wahrhaben. Wir dachten, er hat ein zynisches Verhältnis zu diesen „Narrativen“ und „Ideologien“, dass das gewissermaßen „nur“ Geschichten seien, die er erzählt, Gerede, weil sie ihm halt nützen. Möglicherweise war das ja auch so. Aber wahrscheinlich ist das das einzige, dem gegenüber Putins Leute nicht zynisch sind – diese Auffassung von der russischen Größe, der Pflicht, stark zu werden, denn wer schwach ist, der werde geschlagen, diese Idee vom Imperium.

„In Russlands Geschichte während des 20. Jahrhunderts hatten wir die unterschiedlichsten Perioden“, hatte Boris Jelzin Mitte der neunziger Jahre in einem hellsichtigen Moment erklärt. „Monarchismus, Totalitarismus, Perestroika, und, schließlich, den demokratischen Entwicklungsweg. Jede dieser Etappen“, bemerkte Jelzin, „hatte ihre eigene Ideologie. (…) Aber jetzt haben wir keine.“

Putin und seine „Siloviki“ haben diese Lektion gelernt. Und von Beginn an eine neue ideologische Erzählung entwickelt. Doch anders als es in Jelzins Bemerkung gedacht war, haben sie kein ideologisches Fundament für eine russische Demokratie entwickelt – sondern ein Fundament für die Zerstörung der Demokratie und die Wiedererrichtung der imperialen Autokratie.

Aus welchen Prinzipien und Postulaten diese Ideologie besteht, auf welche historischen Denker Putin sich beruft und wer diese Ideologien auf der Welt verbreitet lesen Sie bald in Folge II.


Robert Misik, 56, ist Journalist und Buchautor und seit 20 Jahren regelmäßiger Falter-Autor. Während der Wende-Jahre berichtete er immer wieder aus Russland, unter anderem vom letzten Parteitag der KPdSU. Demnächst erscheint im Suhrkamp-Verlag sein Buch: „Das große Beginnergefühl. Moderne, Zeitgeist, Revolution.“