Sieg oder Krieg

Gut möglich, dass Wladimir Putin kommenden Montag eine weitere militärische Eskalation ankündigt – nicht nur gegen die Ukraine, auch gegen den Westen.


MARTIN STAUDINGER

02.05.2022

Ablaufplan für den Vorbeimarsch von Bodentruppen bei der russischen Militärparade am 9. Mai.

Als die Welt von Wladimir Putin noch in Ordnung und die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ (so nennt der russische Machthaber bekanntlich den Untergang der UdSSR) nicht eingetreten war, gab es die ehrenwerte Profession der Kreml-Astrologie: Ihre Aufgabe war es, die nach außen hin völlig abgeschottete russische Führung zu durchschauen, Verschiebungen in ihrem Machtgefüge zu erahnen und daraus ihre Absichten abzuleiten. Was sich gar nicht so einfach gestaltete, weil man die obersten Sowjets im Allgemeinen ja kaum öffentlich zu sehen bekam.

Hochfeste der Kreml-Astrologie waren daher Paraden aller Art: Da erschienen die Chruschtschows, Andropovs, Breschnews oder wie sie im Lauf der Zeit sonst noch hießen samt diversen anderen Granden höchstpersönlich am Roten Platz. Und je nachdem, wer wo stehen durfte, wer wie zauselig wirkte (Problem: zeitweise die Mehrheit der Anwesenden) und wer gleich überhaupt nicht mehr dabei war, versuchten Beobachter ihre Rückschlüsse ziehen.

Nach dem Ende des Kalten Krieges hat die Kreml-Astrologie mehr als ein Jahrzehnt lang ein Schattendasein geführt. Boris Jelzin war im Vergleich zu seinen Vorgängern ein offenes Buch, Wladimir Putin schien es zu Beginn seiner Amtszeit auch zu sein. Je weiter Putin jedoch vom Westen wegdriftete, desto mehr gewann auch die Rote-Stern-Deuterei an Bedeutung zurück. Jetzt, da der Kreml erneut komplett zur Black Box geworden ist, erlebt sie ein veritables Revival.

Kommenden Montag findet wieder einmal eine große Parade am Roten Platz statt. Jeden 9. Mai feiert sich Russland für den Sieg über Nazi-Deutschland – und heuer gleichzeitig für etwas, das wie ein perverses Reenactment des Großen Vaterländischen Krieges (unter diesem Namen läuft Zweite Weltkrieg in Russland) wirkt: Die „militärische Spezialoperation“ gegen die Ukraine, die vom Kreml ja als Feldzug gegen den Faschismus verkauft wird.

Wladimir Putin wird das zum Anlass nehmen, Ankündigungen zu machen, soviel gilt als sicher. Bloß: Welche?

Vorerst können auch die Kreml-Astrologen der Gegenwart darüber nur Vermutungen anstellen. Manche brüten über den Ablaufplänen für die Militärparade, die inzwischen bekannt sind: Welche Panzer, Geschütze und Raketen werden über den Roten Platz rasseln und welche nicht? Welche Einheiten marschieren auf? Was sagt das über den Zustand der Streitkräfte und die Situation in der Ukraine? Und hat es etwas zu bedeuten, dass diesmal im Unterschied zum Jahr 2020 der Überflug einer Ilyushin Il-80 geplant ist? Also einer Maschine, die in die Kategorie „doomsday plane“, „Weltuntergangsflugzeug“, fällt, weil sie bei einem Atomkrieg als schwebende Kommandozentrale vorgesehen ist.

Kann was bedeuten. Muss nicht.

Optimisten hoffen, dass Putin am 9. Mai irgendeinen Sieg erklären wird. Die grausige Ironie ist ja, dass die flächendeckende Propaganda, mit der sein Regime das Land überzogen hat, in dieser speziellen Konstellation etwas Gutes hat (zum völlig ironiefrei Schlechten kommen wir etwas später): Der Kreml kann dem, was von der Öffentlichkeit übrig geblieben ist, mehr oder weniger alles erzählen. Wenn sich der Großteil der Bevölkerung davon überzeugen lässt, dass in Kiew Nazis an der Regierung sind, werden die meisten Leute auch glauben, dass die so genannte „Spezialoperation“ gegen die Ukraine ein Erfolg ist. Immerhin wurden Teile des Donbass erobert, die ukrainischen Streitkräfte geschwächt und das als besonders rechtslastig verrufene „Asow-Bataillon“ im Kampf um die Hafenstadt Mariupol dezimiert. Das lässt sich durchaus als Erfüllung offiziellen Kriegsziele hinstellen, die Putin bekannt gegeben hat, nämlich: Die „Befreiung“ der Oblasten Luhansk und Donezk sowie die „Entnazifizierung“ und „Demilitarisierung“ der Ukraine. Über das Ausmaß der eigenen Verluste – britischen Schätzungen zufolge hat Russland zwei Drittel seiner Landstreitkräfte in den Feldzug gegen die Ukraine geworden, ein Viertel von diesen gilt als nicht mehr einsatzfähig – darf ohnehin niemand reden.

Putin könnte also einfach einen Sieg verkünden.

Inzwischen gibt es aber eine viel düsterere Vermutung: Dass er sich nicht mit einem imaginierten Erfolg brüsten wird, sondern eine weitere Eskalation ankündigt – mit einer Mobil-, möglicherweise sogar Generalmobilmachung und einer Kriegserklärung. Explizit gegen die Ukraine, vielleicht sogar gegen „den Westen“.

Danach rufen radikale Nationalisten längst, die Rhetorik im russischen Staatsfernsehen ist beängstigend. Dort delirieren Expertenrunden von einem Großreich unter Kreml-Führung, das von Wladiwostok bis Lissabon reichen soll. Grafiken zeigen, wie schnell Atomraketen aus der Exklave Kaliningrad an der Ostsee (dort sind zwar keine stationiert, aber was soll’s) in Berlin, Paris, London sein können: In 106, 200 bzw. 202 Sekunden, falls es jemanden interessiert. Computeranimationen simulieren, wie Nukleartorpedos Tsunamis auslösen, die ganz Großbritannien überfluten.

Damit sind wir auch schon beim weiter oben angesprochenen Schlechten des vom Kreml geschaffenen propagandistischen Paralleluniversums: Es ist nämlich anzunehmen, dass die Mehrheit der russischen Bevölkerung auch diesen Unsinn glaubt – und damit die ihm zugrundliegende Behauptung, sich in einem existenziellen Abwehrkampf gegen die Auslöschung durch „den Westen“ zu befinden. Und das würde gemäß geltender Militärdoktrin den Einsatz von Atomwaffen rechtfertigen.

Für die Öffentlichkeit haben derlei Welteroberungs- und Endsiegphantasien also zweifellos Bedeutung. Ob das auch für die Eliten gilt, ist unklar. Entspringt die Kriegslüsternheit bloß der schrillen Logik eines staatlichen Krawallfernsehens? Reflektieren sie die Denkweise von Machtzirkeln, die tatsächlich Einfluss darauf haben, wie dieser Krieg geführt wird? Oder gar die Meinung von Putin selbst?

Niemand außer den Beteiligten selbst weiß das. Weil auch niemand weiß, wer die relevanten Beteiligten sind.

Um das abzuschätzen bräuchte man kompetente Kreml-Astrologen. Wofür man sie wohl nicht braucht: Um ernstzunehmen, was Wladimir Putin am 9. Mai sagt. Der Kreml-Chef hat eigentlich immer recht klar gesagt, was er im Schilde führte. Vieles davon wurde nur deshalb nicht wahrgenommen, weil das, was er ankündigte, undenkbar erschien.

Kommenden Montag wird Putin wohl entweder von einem großen Sieg reden. Oder von einem großen Krieg. Und so oder so: Man wird ihm glauben müssen.