Ein Sieg ist das, was man als Sieg verkauft

Russlands Militär brüstet sich damit, einige seiner wichtigsten Kriegsziele in der Ukraine erreicht zu haben: Das ist zwar offenkundige Schönfärberei – macht aber dennoch Hoffnung auf eine zumindest vorläufige Beruhigung des Konflikts.


MARTIN STAUDINGER

26.03.2022

Mission accomplished, behauptet der russische Vize-Generalstabschef Sergey Rudskoy Foto: Russisches Verteidigungsministerium

Man weiß es ja nie so genau im sprichwörtlichen „Nebel des Krieges“, der sich durch die Art und Weise, wie Russland ihn gerade ausstößt, besonders dicht und undurchdringlich über den Ukraine-Konflikt legt. Aber jetzt scheint er sich ein wenig gehoben und den Ausblick auf eine signifikante Wende ermöglicht zu haben.

Zuvor noch wichtige Ereignisse der vergangenen Stunden:

  • Die Nato stockt ihre Truppen in Osteuropa substanziell auf 40.000 Soldatinnen und Soldaten auf. Zudem sollen kurzfristig vier zusätzliche multinationale Gefechtsverbände in Bulgarien, Rumänien, der Slowakei und Ungarn aufgestellt werden.
  • Mehr als die Hälfte der insgesamt 7,5 Millionen Kinder in der Ukraine mussten nach Angaben von Unicef infolge des Krieges aus ihrem Zuhause flüchten. Mindestens 81 Minderjährige sind bislang durch Kampfhandlungen ums Leben gekommen, 104 verwundet worden.
  • Das kleinste Nachbarland der Ukraine, die Republik Moldau, hat inzwischen 107.000 Flüchtlinge aufgenommen – das sind rund vier Prozent ihrer Bevölkerung von 2,6 Millionen Menschen.
  • Bei einem russischen Luftschlag auf das Schauspielhaus der umkämpften südukrainischen Stadt Mariupol wurden nach Angaben lokaler Behörden mehr als 300 Menschen getötet, die dort Schutz gesucht hatten.

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Gestern Abend absolvierte der stellvertretende russische Generalstabschef Sergey Rudskoy in Moskau ein Presse-Briefing, was schon per se bemerkenswert ist, weil derlei a) äußerst selten passiert und b) einschlägige Ausführungen noch seltener umgehend ins Englische übersetzt werden.

Wir sparen uns jetzt einmal die allgemeine Propaganda (faschistisches Regime in Kiew, Genozid in der Ostukraine, dadurch erzwungenes militärisches Eingreifen etc.) und die offenkundigen Lügen (keine Angriffe auf Bevölkerung und zivile Infrastruktur), die Rudskoy auftragsgemäß von sich gab. Bedeutsamer sind die propagandistischen Behauptungen des Generals im Hinblick auf angebliche militärische Erfolge der russischen Truppen, die glückhaft zu einigen immer wieder formulierten Spezialoperationszielen des Kremls passen: Der notwendigen „Demilitarisierung“ der Ukraine beispielsweise, und damit den Schutz der Bevölkerung in den separatistischen „Volksrepubliken“ Donetsk und Luhansk (zur englischsprachigen Version von Rudskoys Ausführungen geht es hier)

Laut Rudskoy wurden die Streitkräfte der Ukraine durch die russische Invasion (die angeblich nur deswegen notwendig war, weil sich alle politischen Vermittlungsversuche als erfolglos erwiesen) entscheidend geschwächt, sprich: Demilitarisierungsauftrag komplett erfüllt, Faschismusneutralisierungsbefehl zumindest teilweise. Das erinnert retrospektiv ein bisschen an George W. Bushs Rede wenige Wochen nach Beginn der US-Invasion im Irak, die im Slogan „Mission accomplished“ gipfelte.

Wobei: Das mit der Schwächung der ukrainischen Streitkräfte stimmt klarerweise. Sie mussten in den vergangenen Wochen zweifellos schwere Verluste an Menschen und Material hinnehmen. Unerwähnt ließ Rudskoy allerdings die Tatsache, dass die Verluste der russischen Angreifer um ein Vielfaches höher waren als jene der ukrainischen Verteidiger – möglicherweise so hoch, dass sich eine großflächige Fortsetzung der Offensive für den Kreml momentan einfach nicht ausgeht.

Vergegenwärtigen wir uns die aktuelle Lage: Russland hat es nicht geschafft, Kiew einzunehmen. Im Norden und Osten geht der Vormarsch kaum voran, im Süden nur punktuell. Zudem haben die ukrainischen Truppen Gegenoffensiven gestartet, die zumindest lokal erfolgreich zu sein scheinen. Gleichzeitig haben russische Truppen aber die Kontrolle über große Teile der Ostukraine übernommen und einen Landkorridor zur Halbinsel Krim erkämpft. Möglich, dass sie noch weitere Geländegewinne machen: Die Eroberung des gesamten Landes ist aber komplett unrealistisch, der nationale Widerstand zu heftig, der internationale (Sanktionen etc.) substanziell.

Wenn Wladimir Putin das nicht erkannt hat, dann sind bei ihm tatsächlich alle Sicherungen durchgebrannt. Danach sieht es aber nicht aus – sondern eher danach, dass der Kreml-Chef und sein Führungszirkel gerade damit beschäftigt sind, das Scheitern ihres ursprünglichen Plans (schneller, unkomplizierter Regimewechsel in Kiew) sich selbst, ihrer Bevölkerung und dem gutgläubigen Teil der Welt so schönzureden, dass ein Sieg daraus wird.

Ein Militärstratege meines Vertrauens, Oberst Markus Reisner, hat bereits vor Wochen fünf Szenarien entworfen, wie sich der Ukraine-Konflikt entwickeln könnte. Nummer 1 (ein kurzer, intensiver Krieg) hat sich erledigt. Nummer 4 (überregionale Ausweitung) und 5 (Palastrevolte im Kreml) sind zumindest aus heutiger Sicht nicht aktuell. Wir stehen vielmehr an der Kippe zwischen Nummer 2 – einem Abnützungskrieg – und Nummer 3: Einem Patt, das die Konfliktparteien trotzdem als eine Art von Sieg verkaufen können, was es ihnen ermöglicht, ernsthafte Verhandlungen zu beginnen.

Putin und Russland können behaupten, große Teile der Ostukraine heim ins russische Reich geholt, die angeblichen Faschisten in Kiew besiegt, ihr Militär entscheidend dezimiert und einen Beitritt des Landes zur Nato verhindert zu haben (also das, was Vize-Generalstabschef Rudskoy gestern im Wesentlichen behauptete).

Wolodymyr Selenskyj und die Ukraine können für sich in Anspruch nehmen, die Angreifer gestoppt, den Verlust großer Teile des ukrainischen Territoriums verhindert und die Hauptstadt Kiew vor der Eroberung bewahrt zu haben.

Das ist für keine der beiden Seiten schön – für Russland verdienter-, für die Ukraine bedauerlicherweise. Es heißt auch nicht, dass der Krieg damit endet: Putin kann seine Truppen weiterhin versuchen lassen, Geländegewinne zu erzielen; er kann dafür sorgen, dass der Konflikt entlang langer Konfrontationslinien „einfriert“ und dort immer wieder nach Bedarf aufgetaut wird. Vielleicht versucht er auch bloß, Zeit zu gewinnen, um eine neuerliche Offensive vorzubereiten – am 1. April ist der nächste Einrückungstermin für neue Wehrpflichtige, die als Ersatz für bereits erlittene Verluste (Schätzungen sprechen von bis zu 40.000 Gefallenen, Verwundeten, Gefangenen und Vermissten) in den Fleischwolf der so genannten Spezialoperation gestopft werden können.

Und trotzdem: Rudskoys Aussagen lassen darauf hoffen, dass sich die Eskalationsspirale nicht endlos weiter in den Nebel des Krieges hineindreht. Vorerst zumindest.

PS: Wie es der Zivilbevölkerung geht, schildern Frauen und Männer aus vielen Teilen des Landes in unseren Ukraine-Tagebüchern, die laufend aktualisiert werden.