MARTIN STAUDINGER —
23.03.2022
Täglich neue, entsetzliche Bilder bekommen wir aus der Ukraine zu sehen: Feuerbälle und Rauchsäulen, die über Städten aufsteigen; zerschossene, zerbombte Wohnhäuser, Supermärkte, Kliniken; ausgebrannte Panzerfahrzeuge, abgestürzte Fluggeräte; tote ukrainische Zivilisten, tote ukrainische und russische Soldaten.
Und gleichzeitig bleibt das große Bild seit ein paar Tagen seltsam gleich: Am Frontverlauf hat sich seit fast zwei Wochen kaum etwas geändert. Kiew ist zu drei Viertel, aber nicht ganz umzingelt; im Osten kommen die russischen Truppen wenig voran; im Süden schaffen sie es nicht, die Stadt Mariupol zu erobern und legen sie stattdessen in Schutt und Asche.
Fast unbemerkt ist der Konflikt in eine neue Phase eingetreten: „Von mobil zu statisch, von einem kurzen, intensiven Militärschlag zu einem Abnützungskrieg“, analysiert Oberst Markus Reisner. Beide Seiten graben sich ein und verlegen sich auf drohnengestützten Artillerie- und Raketenbeschuss.
Gleichzeitig kommen die Verhandlungen ebensowenig vom Fleck wie die Kampfhandlungen: Wolodymyr Selenskyj fordert direkte Gespräche auf Präsidentenebene, bietet einerseits Konzessionen an, stellt andererseits aber Bedingungen, die schwer zu erfüllen sind (etwa, dass jede Einigung durch ein Referendum abgesegnet werden muss). Wladimir Putin macht keine Konzessionen und stellt sich einfach taub.
Das lässt befürchten, dass der Krieg noch lange dauert, ohne eine entscheidende Wendung zu nehmen: „Russland kann nicht gewinnen“, sagte UN-Generalsekretär António Guterres gestern. Russland will aber auch nicht verlieren, soviel ist klar. Und Putin hat ja für alle Fälle bereits „Konsequenzen, wie Sie sie noch nie gesehen haben“ in Aussicht gestellt.
Das bringt eine Angst zurück, die am Beginn der Invasion kurz aufgeflackert ist, dann aber wieder verdrängt wurde (siehe auch das Ukraine-Update vom 2. März): Die Angst vor dem Einsatz von Atomwaffen – absurderweise berechtigt, weil die in den vergangenen Jahrzehnten weniger gefährlich geworden sind.
Zuvor wieder einige wichtige Ereignisse der vergangenen Stunden:
- In der Region Kherson am Schwarzen Meer hat die ukrainische Armee eine Gegenoffensive gestartet, um verlorenes Territorium zurückzuerobern.
- Mariupol, wo zehntausende Menschen von russischen Truppen eingekesselt sind, wird weiterhin gnadenlos beschossen. Die letzten beiden Journalisten, die noch dort ausgeharrt hatten, mussten vor wenigen Tagen fliehen, um nicht verhaftet oder getötet zu werden. Seither dringen praktisch keine Nachrichten mehr aus der Stadt.
- SPÖ und FPÖ haben in der Parlaments-Präsidiale einen Vorschlag der Neos abgelehnt, dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj nach dem Vorbild anderer Länder eine Video-Rede vor dem Nationalrat zu ermöglichen. Beide Parteien begründeten das mit der Neutralität Österreichs.
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Weniger gefährliche Atombomben? Doch, die gibt es, wenn die bislang einzigen als Maßstab heranziehen, die in kriegerischer Absicht eingesetzt wurden – Little Boy und Fat Man, von den USA am Ende des Zweiten Weltkriegs auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki abgeworfen.
Danach rüsteten die Großmächte zunächst massiv auf: Mit bis zu 3000mal stärkeren Sprengköpfen. Später setzte der gegenteilige Trend ein – die Bomben wurden kleiner und schwächer (unter anderem deshalb, weil dadurch diverse Verträge zur Rüstungskontrolle umgangen werden konnten). Zuletzt haben die Vereinigten Staaten etwa mit dem Typ B61 Model 12 eine entwickelt, die nur zwei Prozent der Zerstörungskraft von Little Boy hat und entsprechend weniger Zerstörung und Verstrahlung verursacht.
Das mache es „denkbarer“, dass das nukleare Tabu gebrochen wird, zitiert die New York Times den ehemaligen US-General James E. Cartwright.
Auch Russland hat inzwischen kleinere, präzisere Atombomben – und diese in der Theorie, also bei Planspielen, auch immer wieder eingesetzt. 1981, zu Zeiten des Warschauer Pakts, wurden bei einer Übung etwa zwölf Atomsprengköpfe auf Österreich „abgeworfen“, zwei davon mit jeweils 500 Kilotonnen Sprengkraft auf Wien. Zum Vergleich: Little Boy hatte rund 15 Kilotonnen. In die Tat umgesetzt, hätte dieser Angriff das halbe Land ausgelöscht. Man darf davon ausgehen, dass auch die NATO ähnliche Sandkastenspiele durchgeführt hat.
Von derartig apokalyptischen Szenarien ist inzwischen zwar keine Rede mehr. Von begrenzteren hingegen durchaus. Im Sommer 1999 simulierte Russland beispielweise einen NATO-Angriff auf seine Ostsee-Enklave Kaliningrad. Als die Verteidiger nach drei Tagen konventioneller Kriegsführung zu unterliegen drohten, antworteten sie in diesem Planspiel mit einem taktischen Nuklearsprengkopf.
In der russischen Militärdoktrin läuft das unter dem Motto „Eskalieren um zu de-eskalieren“; also einen Gegner durch einen taktischen Atomschlag abzuschrecken oder in die Knie zu zwingen. „Russland betrachtet Nuklearwaffen eher utilitaristisch als undenkbar“, sagt James Clapper, unter Präsiden Barack Obama der oberste US-Geheimdienstler, in der New York Times: „Sie machen nicht den Unterschied zwischen konventionellen und atomaren Waffen wie wir.“
Dass der Kreml das auch so sieht, bestätigte Putins Sprecher Dmitri Peskow gestern Abend: Im Fall einer „existenziellen Bedrohung“ Russlands werde der Kreml sein Atomarsenal einsetzen, sagte er – aber nur dann.
Sehr beruhigend ist das angesichts der Art und Weise, wie Russlands Führung die Realität einzuschätzen scheint, nicht.
Wobei: Eine Nuklearexplosion mehr oder weniger wäre per se noch nicht der Weltuntergang angesichts der Zahl an Atombomben, die bislang gezündet wurden. Nicht weniger als 2053 waren es in den Jahren 1945 bis 1998, 2051 davon zu Testzwecken (eine beeindruckende animierte Grafik, die alle auf einer Weltkarte verortet, gibt es hier), und die Menschheit ist noch immer nicht ausgestorben.
Das Problem ist ein ganz anderes: Wie würde der Rest der Welt, allen voran die USA, damit umgehen? Mit gleichen Mitteln zurückschlagen, etwa irgendwo in den unbewohnten Weiten Sibiriens? Und was wäre dann wiederum die Reaktion Russlands?
Das ist aktuell die schwierigste Frage der Welt, und eine Antwort darauf will vorerst niemand in der NATO geben. Vielleicht kennt man sie auch nicht. Aber sie wird mit Sicherheit gestellt, wenn US-Präsident Joe Biden ab heute Europa besucht, erst das NATO-Hauptquartier in Brüssel, danach EU-Staats- und Regierungschefs und anschließend Polen.
Vermutlich kennen sie mittlerweile alle eine Simulation des Programms Science and Global Security (SGS) an der Universität Princeton, das in einem Video verstörend anschaulich dargestellt hat, was passieren könnte, wenn nach taktischen Atomschlägen eine nukleare Auseinandersetzung eskaliert.
Binnen weniger Stunden wären mehr als 90 Millionen Menschen tot.