Ein Hoffnungsschimmer

In der Ukraine wird weiter gekämpft, geschossen, angegriffen und abgewehrt. Aber die Rhetorik zwischen den Regierungen in Moskau und Kiew hat sich geändert.


MARTIN STAUDINGER

17.03.2022

Ukrainischer Angriff auf einen von russischen Truppen eroberten Flughafen in der Stadt Cherson

Kann es sein, dass zwischen der Ukraine und Russland gerade etwas in Gang kommt, hin zum Besseren? Oder ist es nur Wunschdenken, die Sehnsucht nach einem Hoffnungsschimmer, der darauf hindeutet, dass der Krieg endet oder zumindest nicht noch mehr eskaliert?

Militärisch deutet wenig auf letzteres hin: Es wird weiterhin gekämpft, beschossen, angegriffen und abgewehrt.

Aber in der Rhetorik beider Seiten hat sich während der vergangenen 48 Stunden etwas geändert.

Bevor ich dazu komme, wie immer wichtige Ereignisse der vergangenen Stunden:

  • Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj forderte bei einer Videoansprache an den US-Kongress mehr militärische und finanzielle Hilfe gefordert.
  • Die Ukraine hat ihr Stromnetz von Russland und Belarus abgekoppelt und mit dem von Kontinentaleuropa synchronisiert.
  • Bei einem ukrainischen Raketenangriff auf einen von russischen Truppen besetzten Flughafen in der südukrainischen Stadt Cherson wurden zahlreiche Kampfhubschrauber zerstört.
  • Russland hat das Theater der Stadt Mariupol mit einem Bombenangriff dem Erdboden gleichgemacht.
  • In der Stadt Tschernihiw wurden mindestens zehn Menschen, die sich vor einem Brotgeschäft angestellt hatten, von Granatbeschuss getötet.
  • Im Rajon Brest, der im Dreiländereck Belarus, Ukraine und Polen liegt, werden seit Tagen auffällige Truppenbewegungen russischer und belarussischer Einheiten beobachtet. Für eine Invasion im Osten der Ukraine dürfte ihre Stärke vorerst nicht ausreichen. Möglich scheint aber eine begrenzte Intervention, um Panik im Westen des Landes und eine noch größere Flüchtlingsbewegung auszulösen.

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Sowohl die Regierung in Moskau als auch jene in Kiew lässt durch Aussagen aufhorchen, die noch vor wenigen Tagen undenkbar gewesen wären.

Zuerst gab der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj zu erkennen, dass eine Mitgliedschaft in der Nato für sein Land unrealistisch sei: „Einige Zeit lang haben wir geglaubt, die Tür sei offen, aber jetzt spüren wir, dass wir dort nicht eintreten können, und wir anerkennen das“, sagte er vorgestern. Ein bemerkenswertes Entgegenkommen – immerhin hat es für Russland (im Gegensatz zur durchsichtigen Kreml-Propaganda vom Kampf gegen den Faschismus in Kiew) ja höchste Priorität, einen Beitritt der Ukraine zum transatlantischen Verteidigungsbündnis zu verhindern.

Dann redeten Angehörige der russischen Delegation nach der vierten Gesprächsrunde von „Fortschritten bei einer Reihe von Positionen.“ Der Verhandlungsführer sagte, Russland brauche „eine friedliche, freie, unabhängige Ukraine, neutral, kein Mitglied eines Militärbündnisses, kein Mitglied der Nato.“ Und Putins Außenminister Sergej Lawrow sprach davon, man nähere sich „spezifischen Formulierungen, die meiner Meinung nach nahe an einer Einigung sind“.

Und gestern am frühen Abend berichtete die Financial Times schließlich unter Berufung auf offizielle, aber nicht genannte Quellen von Entwürfen für ein 15-Punkte-Abkommen. Inhalt: Waffenstillstand und Rückzug der russischen Truppen im Gegenzug zur Absage der Ukraine an die Nato-Beitritt, garantierter Neutralität und einer Begrenzung der ukrainischen Streitkräfte.

Schnelle Frage an einen Militärexperten meines Vertrauens: Ist das bedeutsam?

Ja, sagt Oberst Markus Reisner, Leiter der Forschungsabteilung an der Militärakademie Wiener Neustadt: „Wenn man genau hinhört, rückt Putin ein bisschen von den radikalen Forderungen ab, die er zu Beginn des Krieges gestellt hat. Damals hat er der Ukraine als solcher das Existenzrecht abgesprochen – jetzt sagt er, er habe nie vorgehabt, das ganze Land zu besetzen.“

Und das erzähle auch einiges über die militärische Lage, so Reisner: „Wenn es wirklich so gut laufen würde, wie der Kreml selbst behauptet, dann bräuchte er gar nicht verhandeln. Die russischen Truppen mussten schon einige Rückschläge hinnehmen. Sie haben – wie die meisten anderen auch – die Ukrainer unterschätzt.“

Tatsächlich hat sich am Frontverlauf im Gegensatz zur Rhetorik wenig geändert. Der lange erwartete Großangriff auf Kiew ist bislang ausgeblieben. Im Norden und Osten kommen die russischen Truppen kaum voran. Offenkundig konzentrieren sie sich im Moment darauf, von Süden her die Brücken über den Dnepr zu erobern. Der Fluss ist die Lebensader der Ukraine und eine natürliche Grenze, die den russisch-sprachigen Teil des Landes vom Großteil seines ukrainisch-sprachigen Territoriums trennt. Dort könnte (Konjunktiv!) Putin haltmachen lassen.

Aber warum?

Vielleicht, weil ihm inzwischen klar ist, dass es seine Angriffstruppen nicht schaffen werden, die ganze Ukraine zu erobern. „Die Hoffnung ist, dass es eine Verhandlungslösung gibt“, sagt Reisner: „Das geht aber nur, wenn beide Seiten etwas haben, das sie als Erfolg verkaufen können. Denkbar wäre beispielsweise, dass die Russen bis zum Dnepr vorstoßen. Damit könnten sie substanzielle Geländegewinne verbuchen – und die Ukrainer könnten gleichzeitig sagen, dass sie die Russen gestoppt und Kiew gehalten haben.“

Das, was hier „Hoffnung“ heißt, wäre für die Ukraine schlimm genug – der Verlust ihres halben Staatsgebiets und die Aussicht auf einen dauerhaften, eingefrorenen Konflikt entlang einer neuen Grenze, der jederzeit auftauen kann.

Ob sich Putin damit zufriedengibt, ist ohnehin nicht klar. Gestern redete der Kreml-Chef wieder von einem ukrainischen „Pro-Nazi-Regime“ (interessanterweise ebenfalls eine leichte Abschwächung – bislang bezeichnete er die Regierung in Kiew stets taxfrei eine „Bande von Drogenabhängigen und Neonazis“), das in absehbarer Zukunft an Nuklearwaffen herankommen und Russland ins Visier nehmen könnte.

Auch aufseiten der Ukraine ist nicht klar, wie weit die Zugeständnisse gehen können. Eine Neutralität nach „österreichischem oder schwedischen“ Vorbild, wie von Russland gefordert, werde es nicht geben, hieß es aus Kiew: es müsse schon eine genuin ukrainische Neutralität sein. Der von der Financial Times zitierte Plan gebe nur die russischen Forderungen wieder – „mehr nicht“, so ein Berater von Präsident Selenskyj.

Und dann sind da noch die Unterstützer der Ukraine, die ebenfalls ein Wörtchen mitreden wollen: „Offenbar gibt es in Europa zwei Lager: Die Hardliner, die den Krieg als Gelegenheit nutzen wollen, Russland möglichst schwer zu treffen – dazu gehört beispielsweise Großbritannien. Und die Kompromissbereiten, die auf eine Verhandlungslösung drängen – etwa Deutschland. Aus den USA kommen unterschiedliche Signale“, sagt Reisner.

Machen wir uns keine Illusionen: Bis in der Ukraine die Waffen schweigen, ist es noch ein langer, mühsamer Weg, auf dem viele Rückschläge zu erwarten sind. Und vielleicht war das russische Entgegenkommen auch bloß ein Trick, um Zeit für weitere Offensiven zu gewinnen – und gar kein ernsthafter Verhandlungsansatz.

Aber heute gibt es zumindest einen Anflug von Hoffnung, dass man irgendwann auf den 16. März zurückschauen wird – als den Tag, der den Anfang vom Ende des Krieges gegen die Ukraine markiert.