Eskalationsstufe 3

Die militärische Lage in der Ukraine drei Wochen nach Kriegsbeginn: Keine Rücksicht mehr auf Zivilisten, Söldner aus Nahost und eine ukrainische Armee in Gefahr, eingekesselt zu werden.


MARTIN STAUDINGER

16.03.2022

Karte: Twitter/@war_mapper

Morgen ist es bereits drei Wochen her, seit der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine begonnen hat. Und wenn es nach Wladimir Putin geht, dann sind das wohl mindestens zweieinhalb Wochen zu viel. Denn eines wird immer offensichtlicher – der Kreml hat mit einem schnellen Sieg über die Ukraine gerechnet. Und sich damit verkalkuliert (Spoiler: das sagt freilich noch nichts darüber aus, wer am Ende gewinnt. Russland hat sich, wie es der österreichische Militärexperte Franz-Stefan Gady formulierte, immer wieder als „gute Zweite-Halbzeit-Mannschaft“ erwiesen).

Durchaus möglich jedenfalls, dass der Kreml ursprünglich hoffte, einen Regimewechsel in Kiew (Kyiv) ohne Gewalt herbeiführen zu können – alleine durch die Drohkulisse einer kampfbereiten 150.000-Mann-Armee an der Grenze. Das hat bekanntlich nicht geklappt.

Daraufhin folgte die militärische Eskalationsstufe 1: Eine vorerst noch begrenzte Invasion. Geplant war offenbar, die ukrainische Regierung durch eine Luftlandeoperation nördlich von Kiew auszuschalten oder zu stürzen, gleichzeitig andere Schlüsselstellen im Land zu übernehmen und damit Tatsachen zu schaffen. Das ist am Widerstand der Ukrainer gescheitert.

Eskalationsstufe 2 brachte den Einmarsch aller an der Grenze zusammengezogenene Truppen mit dem Ziel, das Land schnell zu überrennen. Aber auch das hat nicht wie gewünscht funktioniert. Im Norden und Osten kommen die russischen Streitkräfte nur langsam voran, es gibt Probleme mit dem Nachschub und ukrainischen Hinterhalten.

Auch deshalb erleben wir, wie Oberst Markus Reisner, Leiter der Forschungsabteilung an der Militärakademie Wiener Neustadt, analysiert, inzwischen den Übergang zur Eskalationsstufe 3: Zunehmend brutale Angriffe auf Städte ohne Rücksichtnahme auf die Zivilbevölkerung – in der Nacht zum Dienstag besonders auf Kiew, Charkiw und Mariupol; und der vermehrte Einsatz von Söldnern, etwa Angehörigen der berüchtigten „Gruppe Wagner“. Auch aus den Kriegsgebieten im Nahen Osten karrt der Kreml Kämpfer in die Ukraine, nach eigenen Angaben an die 16.000.

Gleichzeitig versuchen die russischen Truppen von Süden her, die ukrainischen Streitkräfte jenseits den Flusses Dnepr (Dnipro) einzukesseln und damit vom Rest des Landes abzuschneiden. Von entscheidender Bedeutung sind dabei sechs Brücken, die Russland noch nicht unter Kontrolle bekommen hat. Gelingt ihnen das, könnte es kriegsentscheidend sein – oder dazu führen, dass der russische Vormarsch zunächst einmal stoppt.

Was ist vom weiteren Verlauf des Krieges zu erwarten? Darüber hat meine Kollegin Eva Konzett mit Generalmajor Günter Bruno Hofbauer, dem Leiter der Gruppe Grundsatzplanung des österreichischen Bundesheers gesprochen. Das Interview erscheint im aktuellen FALTER und ist hier ausnahmsweise kostenlos zu lesen.

Zuvor aber wichtige Ereignisse der vergangenen Stunden:

Die Regierungschefs von Polen, Tschechien und Slowenien – Mateusz Morawiecki, Petr Fiala und Janez Jansa – sind mit dem Zug nach Kiew gereist, um sich dort mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zu treffen

Selenskyj hat erstmals durchblicken lassen, vom Anspruch eines Nato-Beitritts abzurückenn, der in der ukrainischen Verfassung festgeschrieben ist: „Einige Zeit lang haben wir geglaubt, die Tür zur Nato sei offen, aber jetzt spüren wir, dass wir dort nicht eintreten können, und wir anerkennen das“, sagte er bei einem Treffen mit hochrangigen Militärs.

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„Russland ist bereit, sehr viele Tote in Kauf zu nehmen“

FALTER: Herr Generalmajor Hofbauer, am Sonntag haben russische Luftstreitkräfte einen Truppenübungsplatz in der Nähe von Lemberg, nur 20 Kilometer von der polnischen Grenze entfernt, bombardiert. Ist der Krieg jetzt im Westen der Ukraine angekommen?

Günter Bruno Hofbauer: Wir haben es schon in der ersten Nacht der Invasion, am 24. Februar, Angriffe mit Marschflugkörper auf verschiedenste militärische Einrichtungen in der ganzen Ukraine gesehen. Der Schlag vom Wochenende galt offenbar dem Umstand, dass die Russen glauben, dass über diesen Stützpunkt die Waffenlieferungen auf dem Landweg aus Polen laufen. Die sehen das auf den Bildern der Aufklärungssatelliten. Und wahrscheinlich haben sie auch Geheimagenten vor Ort. Ich gehe derzeit nicht davon aus, dass die russischen Streitkräfte insgesamt in den Westen vorstoßen werden. Dafür reichen die Kräfte nicht. Vor allem solange Belarus sich nicht beteiligt, das ja nur von Norden runterkommen müsste.

Kommen die Russen denn langsam voran, oder haben wir ein falsches Bild?

Wir sind im Westen ein bisschen durch die hohen Angriffsgeschwindigkeit der Amerikaner verwöhnt, wie sie das etwa im Irak-Krieg vorgeführt haben. Und ja, die Russen haben es wohl nicht planmäßig geschafft, Kiew schnell gleich zu Beginn einzunehmen. Darauf weist auch der berühmte 40 bis 60 Kilometer lange Konvoi hin. Sie scheinen den Nachschub und die Bodentruppen zu früh losgeschickt zu haben. Doch jetzt läuft der Angriff nach den russischen Militärdoktrinen ab. Auch in den anderen Städten kommen sie aber schwerer voran, denken Sie an Charkiw, das wird immer noch gehalten. Die Russen brauchen die Städte aber für die Logistik. Der Panzer kann mit seinen Ketten über das Feld an der Stadt vorbeifahren. Die Versorgung und die Logistik, die Lkw brauchen Straßen, und vor allem die Eisenbahn. Denken Sie beispielsweise an die Raketenartillerie, wie sie in Charkiw eingesetzt wird: Die braucht Tonnen an Munition. Jeder Raketenwerfer, wie damals die „Stalinorgel“, braucht Lkw, die ihn versorgen. Und dann schießt er nur zweimal. Vereinfacht gesagt, geht es so, dass die Lkw nur von einem Bahnhof zur Front hin- und herfahren sollten. Je mehr Lkw lange Strecken zurücklegen müssen, desto langsamer kommt der Feldzug voran. Wir haben im Süden aber massiv Geländegewinne durch die russische Seite. Die sind von der Krim zum Dnepr vorgestoßen, Mariupol ist eingeschlossen. Ein Bedrohungsszenario für die Ukraine wäre, wenn ihre Truppen, die derzeit an der Kontaktlinie mit den „Volksrepubliken“ kämpfen, eingekesselt würden und nicht mehr zurückgehen können. Der Dnepr hat nur wenige Brücken.

Die Russen setzen wenig Präzisionswaffen ein, ist das ein Zeichen für die schlechte Ausrüstung der Armee?

Russische Streitkräfte verfügen nicht über dieselbe Anzahl an Präzisionswaffen wie der Westen. Die Verlustaversion, wie wir sie im Westen haben, ist im russischen Denken nicht so präsent. Die russischen Streitkräfte sind ein bisschen anders aufgestellt. Sie setzen auch mehr auf Feuerunterstützung als auf bewegliche Kampfführung. Der Westen ist bemüht, dass er möglichst rasch irgendwohin manövriert, und schützt die Bewegung, zum Beispiel durch Kampfhubschrauber. Die Russen setzen auf Artillerie. Und deren Flächenfeuer ist nicht so präzise.

Für den Laien: Sie bomben nieder?

Es ist sicher eine Waffenwirkung, die nicht so stark unterscheiden kann. Das sind keine Punkttreffer. Deshalb überraschen mich die Bilder aus Mariupol oder Charkiw nicht.

Das heißt, dass das den anderen Städten auch droht?

Ja, jeder Stadt, die sich wehrt. Es werden die Städte eingeschlossen, es werden Fluchtkorridore gemacht, die immer wieder unter Beschuss kommen. Und die Raketenwerfer werden in Stellung gebracht. Wir müssen davon ausgehen, dass die Russen bereit sind, sehr viele Tote in Kauf zu nehmen. In der Zivilbevölkerung und in den eigenen Soldatenreihen.

Kann man sich ausmalen, was in dem Konvoi gerade los ist?

Die Soldaten dort haben sicher keine angenehme Zeit gehabt. Es sollte vermieden werden, dass den Soldaten langweilig und ihnen die Lage unklar ist – das führt zu Verunsicherung. Wir müssen aber mit der Bewertung der Informationen aufpassen. Es wurde berichtet, dass die Soldaten dort vier Tage nur Kaltverpflegung gehabt hätten. Ja, aber das ist im Einsatz nicht ungewöhnlich. Daraus eine Schwäche abzuleiten, wäre verfehlt. Dass diese jungen Burschen nicht wussten, dass sie in den Krieg ziehen, das kann ich aber glauben. Die Russen haben solche Manöver in den vergangenen Jahren immer wieder gemacht. Sie haben schon 2014 die Truppen zusammengezogen oder im Herbst 2021 das große Zapad-Manöver bestritten. Das Großgerät ist nicht mehr nach Hause gefahren.

Haben wir eine ukrainische Sicht auf den Krieg?

Wir haben eine Kiew-zentrierte Sichtweise auf den Krieg. Vom Präsidenten Selenskyi abwärts „vermarkten“ die Ukrainer ihre Nachrichten, bis zu den Drohnenbildern ihrer Hinterhalte. Von der russischen Seite fehlt das zum größten Teil. Hier kommt der Krieg über die Staatsmedien, man zeigt einen hölzernen Ministeriumssprecher, Putin am langen Tisch, während Selenskyi mit dem iPhone in der Stadt spaziert. Das wirkt natürlich emotional. An der ukrainischen Unterlegenheit ändert es aber nichts. Wir sehen, wie die ukrainischen Bauern russisches Gerät wegfahren, aber wir wissen nicht, wie viele ukrainische Fahrzeuge ausgefallen sind. Wir gehen davon aus, dass der Angreifer, also Russland, etwa dreimal so viele Verluste hat wie der Verteidiger. Das ist in der Norm. Und wir sollten nicht die Luft vergessen. Mir ist nicht ganz klar, warum die Russen sich da noch so zurückhalten. Die Russen könnten ihre hochfliegenden Jets einsetzen. Das sind dann jedoch Flächenbombardements, wie im Zweiten Weltkrieg oder in Vietnam. Aus großer Höhe fast 20 Tonnen.

Polen wollte mehr als 20 MiG-Flieger schicken. Braucht die Ukraine mehr Jagdbomber?

Mich wundert, dass die Ukrainer überhaupt noch fliegen. Mehr Kampfflugzeuge würden ihnen bringen, dass sie sich leichter am Boden bewegen können. Sie brauchen da den Schutz aus der Luft. Gerade von der sogenannten Kontaktlinie in der Ostukraine, wo beide Seiten komplette Stellungssysteme ausgebaut haben, kommen sie sonst nicht weg. Sollten sich die ukrainischen Verbände von dort zurückziehen müssen, dann sind sie ohne „Bubble“ in der Luft für jeden russischen Flieger gut aufzufassen und bekämpfbar. Die Russen können sich jetzt schon relativ frei im ukrainischen Luftraum bewegen. Warum sie sich noch zurückhalten, darüber kann man nur spekulieren. Sie fürchten offenbar doch die Bodenluftraketen der Ukrainer.

Jetzt sind schon drei russische Generäle in der Ukraine gefallen. Das ist doch ungewöhnlich, oder nicht?

Es lässt den Schluss zu, dass die Truppen die Präsenz ihrer Führer vorne im Gefecht benötigt haben. Eigentlich gehört der General in den Gefechtsstand in der Tiefe. Es könnte ein Zeichen von Unvorsichtigkeit oder auch Überheblichkeit sein, wenn ich mich als General so zeige, dass mich ein Scharfschütze erwischt. Die Russen haben die Ukrainer schon etwas unterschätzt. Die Ukrainer haben ihr Militär mit Hilfe der USA, der Briten, aber auch anderer Staaten modernisiert. Sie haben noch viel alte Ausrüstung aus der Sowjetzeit, Schützenpanzer, Großgerät. Aber die Funk- und Führungsinformationssysteme sind teilweise sehr modern. Auch in den Taktiken und Gefechtstechniken wissen sie, was sie tun.

Der Krieg in der Ukraine dauert erst drei Wochen. Wie lange wird er noch gehen?

Das lässt sich nicht sagen. Was ich erwarte, ist, dass sich Wladimir Putin mit einer neutralen, demilitarisierten Ukraine plus den „Volksrepubliken“ im Osten und der Krim nicht zufrieden geben wird. Dafür sind die Russen zu erfolgreich. Sie werden jedenfalls die Dnepr-Mündung und den Krim-Nord-Kanal sowie Cherson nicht mehr hergeben. Und vermutlich auch nicht die Landbrücke über Melitopol und Mariupol zur Ostukraine. Damit würden sie auch die Schifffahrt auf dem Dnepr in das Schwarze Meer und das gesamte Asowsche Meer kontrollieren. Da haben sie dann auch das große AKW nahe Saporischschja zur Stromversorgung. Ich bin übrigens der Ansicht, dass die Russen kein Interesse daran haben, bewusst AKWs zu bombardieren, die wollen sie ja noch nutzen. Ob es sich bis Odessa ausgeht, da bin ich mir nicht ganz sicher. Odessa ist noch eine weitere Großstadt, die es einzunehmen und zu halten gilt. Man darf nicht vergessen, dass sich auch die Angriffskräfte abnutzen, oder sie haben solche Verluste, dass sie nicht mehr weiterkommen. Wir werden wohl in einen „Frozen Conflict“ hineintrudeln, mit russischen Soldaten bis zum Dnepr.

Glauben Sie, dass Russland Nuklearwaffen einsetzen wird?

Russland agiert nach dem „Escalate-to-Deescalate-Prinzip“. Es könnte zum Einsatz von taktischen Atomwaffen mit einer Sprengwirkung in der Größenordnung der Hiroshima-Bombe kommen, oder einer darunter. Eine solche Eskalation würde nicht automatisch den nuklearen Gegenschlag auslösen. Man schießt nicht auf Washington, sondern wirft eine solche Bombe über der Ukraine ab. Die Nachricht ist: Jetzt können wir verhandeln – aber aus einer Position der Stärke.

Das ist im Bereich des Möglichen? In Hiroshima starben zehntausende von Menschen!

Ganz ausschließen würde ich es nicht. Das würde ich aber nur dann sehen, wenn der Erfolg der Russen in der Ukraine nachhaltig gefährdet ist. Und das sehe ich militärisch derzeit nicht. Jedenfalls hätte das verheerende Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung.