MARTIN STAUDINGER —
15.03.2022
Wissen Sie, warum Worst-Case-Szenarios glücklicherweise eher selten eintreten? Nicht zuletzt, weil ihre Drastik sehr schnell sehr viele Leute dazu bringt, sehr viel zu tun, um zu verhindern, dass sie Realität werden.
Momentan deutet aber einiges darauf hin, dass wir dabei sind, in ein Worst-Case-Szenario einzutreten, das noch gar nicht wirklich formuliert wurde: Einen Weltkrieg.
Nein, das ist kein zu großes Wort: Ein Weltkrieg ist laut Definition ein Krieg, „der durch sein geographisches Ausmaß über mehrere Kontinente und durch den unbegrenzten Einsatz aller verfügbaren strategischen Ressourcen weltweite Bedeutung erlangt oder der im Ergebnis eine grundsätzliche Neuordnung der weltweiten internationalen Beziehungen mit sich bringt.“
Und all das trifft auf den aktuellen Konflikt zu. Er geht mittlerweile nämlich weit über die Ukraine als unmittelbaren Schauplatz von Kampfhandlungen hinaus. Dass das den wenigsten bewusst ist, hat einen Grund: Wir haben es nicht mit einem dritten „klassischen“ Weltkrieg zu tun, sondern mit dem ersten hybriden – also einem, der auf so vielen Ebenen, an so vielen Fronten und mit so unterschiedlichen Aggressionshandlungen geführt wird, dass man sich schwertut, ihn als solchen zu erkennen.
Die Atomsprengköpfe, die untrennbar mit unserer Vorstellung von einem Weltkrieg verbunden sind, braucht es dazu gar nicht. Warum? Weil es auch anders geht.
Bevor ich dazu komme, zunächst wie immer wichtige Ereignisse der vergangenen Stunden – weil wir schon beim Weltkrieg sind, vor allem auf internationaler Ebene:
- Das Weiße Haus hat die Regierung in Peking gewarnt, Russland Militärhilfe zukommen zu lassen. Zuvor hatten US-Quellen verbreitet, der Kreml habe in China darum gebeten. Die Chinesen wiederum beteuern, keine Anfragen erhalten zu haben.
- Chinesische Kampfjets haben gestern wie schon mehrmals zuvor den Luftraum von Taiwan verletzt. Auf der Insel, die von China als Teil seines Staatsgebietes beansprucht wird, fürchtet man einen Einmarsch nach dem Muster der Ukraine; der Regierung in Peking wiederum wird nachgesagt, die Reaktionen des Westens auf die russische Invasion als Gradmesser für eigene militärische Pläne heranzuziehen.
- Israel erlebte gestern einen der bislang heftigsten Cyberangriffe. Unter anderem war die Website der Regierung betroffen.
- Ein russische Raketenangriff auf ein ukrainisches Militärübungsgelände in Jarowiw nahe der polnischen Grenze hat zu scharfen Reaktionen geführt: Die USA kündigen an, dass jeder – auch unabsichtliche – Schuss über die NATO-Grenze beantwortet wird. Das Militärgelände wurde offenbar unter anderem als Drehscheibe für ausländische Kämpfer und Waffenlieferungen an die Ukraine benutzt. Bei dem Luftschlag waren am Sonntag dutzende Menschen ums Leben gekommen, über hundert wurden verletzt.
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Das Wesen des (Angriffs-)kriegs besteht darin, andere mit Waffengewalt dazu zu bringen, das zu tun, was man selber will. Das Wesen des hybriden Krieges ist es, alles zur Waffe zu machen, was diesem Ziel dient. In diesem Fall sind das, ganz zynisch, auch Flüchtlinge.
Wie das? Wladimir Putin hat aktuell ein Ziel: Die Ukraine dauerhaft an Russland zu binden. Und er hat zwei Feinde, die diesem Ziel entgegenstehen – die Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung und die westliche Welt.
Um sein Ziel zu erreichen, genügt es nicht, die Ukraine zu erobern. Wichtiger sind der Tag, die Wochen, die Monate, die Jahre nach einem allfälligen militärischen Sieg. Das lehrt die Geschichte westlicher Interventionen im Irak (2003) und in Libyen (2011), die im Desaster endeten, weil sich niemand Gedanken darüber gemacht hatte, wie es anschließend weitergehend würde.
Und das stellt den Kreml vor zwei Probleme:
- braucht Russland als Besatzungsmacht, der die ukrainische Bevölkerung feindlich gegenübersteht, mehr Soldaten, als es langfristig aufbieten kann.
- braucht es das, was bereits nach der Annexion der Krim 2014 passiert ist: Dass sich die Mehrheit der internationalen Gemeinschaft irgendwann mit dem neuen Status quo abfindet (auch wenn das offiziell niemand zugibt).
Gut möglich, dass Putin damit kalkuliert, Problem Nummer 1 so zu lösen, dass Problem Nummer 2 gleich mitgelöst wird: Indem seine Truppen möglichst große Teile der Bevölkerung, die ohnehin nicht unter russischer Fuchtel leben wollen, vertreiben – und gleichzeitig als Druckmittel gegen den Westen machen.
Mit Stand gestern waren 2,8 Millionen ukrainische Frauen und Kinder (die Männer dürfen nicht ausreisen) ins Ausland geflüchtet – und das dürfte nur der Anfang sein, denn bislang konzentrieren sich flächendeckenden Kampfhandlungen auf den Süden und Osten des Landes; die westliche Hälfte ist bislang weitgehend verschont geblieben. Gegen seinen ersten Feind, die ukrainische Bevölkerung, hat Putin also schon einen Teilsieg errungen.
Das bringt uns zu Feind Nummer zwei: Den Westen. Man darf davon ausgehen, dass der Kreml aus den Erfahrungen seit dem Jahr 2015 den Schluss gezogen hat, dass nichts besser dazu angetan ist, Europa, seine Staaten und seine Gesellschaften zu spalten, als eine große Flüchtlingskrise.
Auch hier ist Putins Kalkül nicht schwer zu erraten: Es geht vermutlich davon aus, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis die Flüchtlinge, die er als Waffe missbraucht, zur spürbaren politischen und finanziellen Belastung für die EU und ihre Mitgliedsstaaten werden; bis erste Parteien (Wetten, welche das sein könnten, werden gerne angenommen; die Quote ist aufgrund einer gewissen Voraussehbarkeit allerdings niedrig) der Versuchung nicht mehr widerstehen können, Gewinn daraus zu schlagen; bis der dadurch entstehende Druck die Geschlossenheit Europas aufbricht.
Wenn man so will, dann ist das der Versuch, den Krieg mit hybriden Methoden in der EU zu tragen.
Eine zweite hybride Waffe sind die Energiekosten. Da braucht man sich gar nicht mehr zu fragen, wie lange es dauern mag, bis auch sie zum Anlass werden, die gemeinsame Linie bei den Russland-Sanktionen zu hinterfragen – erste Erratiker haben nämlich schon damit begonnen. Wenn Heinz-Christian Strache für die exorbitanten Treibstoffpreise die Steuerpolitik der schwarz-grünen Bundesregierung verantwortlich macht, ist es wohl nur eine Frage der Zeit, bis wir auch von Herbert Kickl hören.
Eine dritte hybride Waffe: Weizen. Russland ist der weltweit größte, die Ukraine einer der größten Getreide-Exporteure. Die Regierung in Moskau hat zwar angekündigt, ihren Lieferverpflichtungen nachzukommen – die Ukraine dürfte heuer aber weitgehend ausfallen. Länder wie Ägypten, Tunesien und Marokko importieren aber große Teile ihres Weizenbedarfs von dort. Hinzu kommen die exorbitanten Preisanstiege am Getreidemarkt. Mit Hungersnöten muss gerechnet werden. Und das wird nicht nur zum Tod von Menschen führen, die rein gar nichts mit dem Krieg in der Ukraine zu tun haben – es dürfte auch neue Flüchtlingsbewegungen aus dem Süden auslösen. Oder zumindest politisch relevante Ängste davor. Womit wir wieder bei Waffe eins wären: Aber in transkontinentaler Ausführung.
Optimistischer lässt sich die Lage derzeit leider nicht beschreiben.