MARTIN STAUDINGER —
11.03.2022
Es ist schon ein paar Jahre her, da bekam ich einen Anruf, der mich doch ein wenig überraschte: Am Apparat war eine Anwältin aus Wien, die mir in recht ungutem Ton zu verstehen gab, dass ihr Klient, ein gewisser Herr Smirnov jun., höchst verärgert über mich sei. So weit, so unspektakulär – als Journalist verärgert man immer wieder Leute, die es einen dann auch wissen lassen.
Erzählenswert ist die Sache aber, weil der Vater von Herrn Smirnov jun., Herr Smirnov sen., zu diesem Zeitpunkt Machthaber von Transnistrien war: Eines selbsternannten, international nicht anerkannten Staats an der ukrainischen Grenze. Und irgendwie war dem Junior (oder seiner Anwältin) ein Artikel von mir untergekommen, in dem der krakenartige Würgegriff eines Konzerns namens Sheriff thematisiert wurde, der alle maßgeblichen Wirtschaftssparten von Transnistrien dominierte. Mein Bericht erwähnte auch Vermutungen (ich muss jetzt aus medienrechtlichen Gründen vorsichtig sein), dass Sheriff den einen oder anderen Berührungspunkt mit dem Smirnov-Clan habe – und die Tatsache, dass das Unternehmen 36 Millionen Euro aus, nun ja, fragwürdigen Geschäften auf Konten von Raiffeisen und ING Diba in Österreich geparkt hatte.
Die Anwältin teilte mir mit, dass sich Herr Smirnov durch meine Berichterstattung in seinen Geschäften gestört fühle. Und das gab mir angesichts des gesamten soziokulturellen Umfelds der handelnden Personen, das milieubedingt handfeste Unmutsäußerungen durchaus möglich erscheinen ließ, doch ein wenig zu denken – ebenso wie die Frage, was mit österreichischen Juristen los ist, die ihre eigenen Landsleute im Auftrag von Leuten wie den Smirnovs bedrohen (so hatte ich den Anruf jedenfalls verstanden).
Der Vorfall ist, darauf komme ich gleich, mehr als eine Anekdote: Er erinnert mich daran, dass Transnistrien näher liegt, als uns bewusst ist. Und das wiederum wird uns auf unabsehbare Zeit möglicherweise mehr beschäftigen, als uns lieb ist.
Zunächst aber wie immer einige wichtige Ereignisse der vergangenen Stunden:
- Gespräche zwischen den Außenministern von Russland und der Ukraine, Sergej Lawrow und Dmytro Kuleba sind gestern in der Türkei ergebnislos verlaufen. Hoffnung geben allerdings zwei Aussagen: Am Mittwoch hatte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky in einem Interview mit der deutschen Bild-Zeitung erklärt, sein Ziel sei es, „den Krieg mit Russland zu beenden. Und ich bin auch bereit zu bestimmten Schritten.“ Lawrow wiederum sagte nach dem Treffen mit Kuleba, Russland sei „bereit, Sicherheitsgarantien für den ukrainischen Staat gemeinsam mit Sicherheitsgarantien für europäische Länder und, natürlich für die Sicherheit Russland“ zu diskutieren: „Und das Faktum, dass jetzt – den öffentlichen Stellungnahmen von Präsident Selensky nach zu urteilen – ein Verständnis für einen derartigen Ansatz Gestalt anzunehmen beginnt, gibt Anlass für einen gewissen Optimismus.“ Für einiges Kopfschütteln sorgte freilich eine andere Aussage Lawrows: „Wir planen nicht, andere Länder anzugreifen. Wir haben auch die Ukraine nicht angegriffen.“
- Als Antwort auf die westlichen Sanktionen will Russland ab kommender Woche den Export von Weizen, Zucker und mehr als 200 andere Produkte in „unfreundliche“ Staaten stoppen.
- Die Regierung in Peking geht ein wenig auf Distanz zum Kreml. Unter anderem verweigert China die Lieferung von Flugzeugersatzteilen an Russland, schickt humanitäre Hilfe im (eher symbolischen) Wert von 720.000 Euro in die Ukraine und bezeichnet die Vorgänge dort mit dem von Wladimir Putin verfemten Wort „Krieg“.
- Evakuierungsbemühungen aus der von russischen Truppen belagerten Stadt Mariupol sind gestern erneut gescheitert.
- Bei dem russischen Luftschlag auf die Kinderklinik von Mariupol, über den wir gestern bereits berichtet haben, sind mindestens drei Menschen, darunter ein Kind ums Leben gekommen.
- Die Zahl der Menschen, die aus der Ukraine geflüchtet sind, liegt inzwischen bei mehr als 2,3 Millionen.
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Transnistrien also, oder wie es sich selbst nennt, Pridnestrowische Moldauische Republik. Ein Landstreifen, der völkerrechtlich zur Republik Moldau gehört, sich im Zuge des Zusammenbruchs der UdSSR 1990 aber von dort abgespalten hat. Flächenmäßig kleiner als das Burgenland, wirtschaftlich aber durchaus bedeutend: In Transnistrien wurde zu Sowjetzeiten viel Schwerindustrie angesiedelt, auf die Moldau nun keinen Zugriff mehr hat, was dem ärmsten Land Europas bitterlich fehlt.
Das ist aber nur eines der Probleme mit Transnistrien. Das zweite ist: Der Pseudostaat steht ziemlich unter der Fuchtel Russlands. Nicht nur aus demografischen Gründen (ein Drittel der Bevölkerung ist russischstämmig), sondern auch aus militärischen. Der Kreml hat dort seit Jahr und Tag Truppen stationiert – früher waren es nur an die 1.500 Mann, wie viele es gegenwärtig sind, ist unbekannt. Eines ist jedenfalls offenkundig: Russland nutzt Transnistrien als vorgeschobene Basis in Europa.
Bislang gab es für den Kreml keinen Landkorridor dorthin. Der könnte jetzt aber entstehen. Russische Truppen rücken in der Südukraine immer weiter nach Westen vor. Ihr nächstes Ziel an der Schwarzmeerküste dürfte Odessa sein, und von dort sind es keine 70 Kilometer mehr nach Transnistrien – in etwa die Entfernung von Wien nach St. Pölten.
Gut möglich, dass auch aus Transnistrien bald ein „Hilferuf“ nach offizieller Anerkennung und Militärhilfe kommt, wie vor der Ukraine-Invasion aus den „Volksrepubliken“ Donetsk und Luhansk in der Ostukraine. Gut möglich auch, dass Russland seine bereits jetzt in der Pseudo-Republik stationierten Truppen einfach so massiv aufstockt – und damit, wie bereits erwähnt, völkerrechtlich gesehen auf dem Territorium eines europäischen Staates, nämlich der Republik Moldau.
Moldau ist weder in der EU noch in der Nato. Im Wissen um seine Schwäche hat es einen Beitritt zum transatlantischen Verteidigungsbündnis immer ostentativ ausgeschlossen; wohl vor allem, um Russland nicht zu reizen. Jetzt strebt es aber die Mitgliedschaft in der Europäische Union an: Einen entsprechenden Antrag hat die Regierung am 3. März, eine Woche nach Beginn der russischen Invasion in der Ukraine gestellt.
Dass dem in absehbarer Zeit entsprochen wird, dürfte eher unwahrscheinlich sein. Dass Russland die fragilen Verhältnisse nutzen kann, um in Südosteuropa Unruhe zu stiften, liegt aber auf der Hand.
Einiges deutet darauf hin, dass der Kreml bereits damit begonnen hat. Nach einem Bericht des Nachrichtenmagazins The Economist wurden in Moldau via Messenger-Diensten Gerüchte gestreut, dass eine Truppenmobilisierung unmittelbar bevorstehe und junge Männer dann das Land nicht mehr verlassen dürften. Russland werde alles tun, um in Moldau einen Regimewechsel im Sinne des Kremls herbeizuführen, befürchtet ein im Economist zitierter Diplomat.
PS: Sheriff kontrolliert inzwischen laut Medienberichten (u.a. der Süddeutschen Zeitung) zwei Drittel der Wirtschaft von Transnistrien, erwirtschaftet ein Drittel des Staatsbudgets und bringt mehr als 50 Prozent der Steuerleistung auf. Unter anderem finanziert der Konzern eine Fußballmannschaft, die in der Champions League spielt und vergangenes Jahr Real Madrid besiegt hat. In welchem Verhältnis Sheriff zu den Smirnovs steht (der Senior hat als Präsident längst abgedankt), lässt sich von außen schwer abschätzen. Aber vielleicht bekomme ich ja bald wieder einen Anruf, der mir das erklärt.