„Angst und Hoffnung, Verzweiflung und Mut“

Tagebuch aus der südukrainischen Hafenstadt Odessa, an die russische Truppen immer näher heranrücken.


MARTIN STAUDINGER

10.03.2022

Vorbereitungen auf einen russischen Angriff: Die Leute von Odessa stapeln Sandsäcke auf, um das Denkmal des ersten Gouverneurs der Stadt vor Bombensplittern zu schützen Foto: Twitter

Am vergangenen Wochenende haben wir das Ukraine-Update dem Journalisten Stanislaw Aseyew überlassen, der aus dem belagerten Kyiv berichtet hat (wer seine Texte noch nicht gelesen hat – hier nochmals der Link).

Heute beginnen wir mit einem neuen Tagebuch: Diesmal aus Odessa. Die drittgrößte Stadt des Landes ist eine prachtvolle Metropole am Schwarzen Meer und war lange Zeit eines der wichtigsten Zentren jiddischer Kultur in Osteuropa. Hier drehte Sergej Eisenstein den Film „Panzerkreuzer Potemkin“, dessen berühmteste Szene auf der Freitreppe zum Hafen der Stadt spielt, wo unschuldige Zivilisten von Soldaten niederkartätscht werden.

Jetzt fürchten die Menschen von Odessa mit gutem Grund, dass sich Szenen wie diese wiederholen könnten. Russische Truppen rücken immer näher an Odessa heran – zweifellos steht die Stadt ganz oben auf der Liste der Kriegsziele des Kremls. In Odessa lebt die Lehrerin Karina, die sich bereiterklärt hat, für das FALTER-Ukraine-Update Tagebuch über das Leben in Odessa zu führen.

Vor ihrem ersten Eintrag, der gestern Nachmittag protokolliert wurde, wie immer die wichtigsten Ereignisse der vergangenen Stunden.

  • Russland und die Ukraine haben erstmals direkte Gespräche auf höchster Ebene vereinbart. Heute, Donnerstag, sollen ein Treffen zwischen dem russischen Außenminister Sergei Lawrow und seinem ukrainischen Gegenüber Dmytro Kuleba in der Türkei stattfinden. Drei bereits erfolgte Verhandlungsrunden in Belarus haben bislang keine substanziellen Ergebnisse gebracht.
  • Das russische Verteidigungsministerium hat erstmals offiziell eingestanden, dass bei der Invasion in der Ukraine auch Wehrpflichtige in den Kampf geschickt und dabei getötet wurden. Vladimir Putin hatte das noch vor wenigen Tagen dementiert.
  • Die Stromversorgung im stillgelegten AKW Tschernobyl ist nach Kämpfen gestern zusammengebrochen. Die Atombehörde IAEA sah darin gestern noch keine unmittelbare Gefahr – die Wasserkühlung für die alten Brennstäbe und den Nuklearabfall funktioniere auch ohne Elektrizitätszufuhr weiter, hieß es.
  • In der belagerten Stadt Mariupol wurde offenbar das Gelände einer Kinderklinik von einem russischen Luftschlag getroffen. Videoaufnahmen und Fotos zeigen, wie verwundete Personen – darunter hochschwangere Frauen – aus dem Gebäude gebracht werden, die Zahl der Verletzten und möglicher Todesopfer war vorerst aber unbekannt.
  • Russland hat inzwischen die gesamte Streitmacht, die an der Grenze zur Ukraine zusammengezogen wurde, ins Kriegsgebiet geschickt. Trotz schwerer Verluste – die Schätzungen reichen von 4.000 bis 8.000 getöteten Soldaten – sind nach US-Analysen immer noch 95 Prozent dieser Truppen intakt.

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Odessa, 9. März 2022

Karina: „Nein, ich werde nicht weggehen“

In der Ukraine sagen wir: Kyiv ist das Herz des Landes, aber Odessa ist seine Seele. Und für mich ist es die schönste Stadt der Welt. Auch jetzt, wo alle Cafés geschlossen und die Strände vermint sind, und uns immer wieder der Luftalarm oder eine Explosion erschreckt.

Ich lebe seit meiner Geburt hier, bin Lehrerin und unterrichte Deutsch an einer Schule, meine Eltern sind alt und gebrechlich. Wir haben alle Angst, ganz klar. Es ist zu befürchten, dass ein russischer Angriff knapp bevorsteht. Präsident Selensky hat vor ein paar Tagen sogar davon gesprochen, dass es Pläne gebe, Odessa zu bombardieren.

Deshalb tun die Leute derzeit alles, um Verteidigungsanlagen aufzubauen und wichtige Kulturgüter zu schützen: Sie stapeln Sandsäcke, bauen Barrikaden und packen Denkmäler ein, damit sie nicht durch Splitter beschädigt werden. Gleichzeitig haben sich gestern lange Menschenschlangen auf den Straßen gebildet – und zwar vor den Blumenhandlungen: Bei uns wird der Weltfrauentag groß gefeiert, die Männer sind angestanden, um Blumen zu kaufen.

Angst und Hoffnung, Verzweiflung und Mut: Das ist die Stimmung im Moment.

Und den Humor, für den meine Stadt bekannt ist, hat sie auch nicht verloren. Wollen Sie einen Witz hören, der gerade umgeht? Dazu muss ich vorher etwas erklären: Der Doppeladler im russischen Wappen hält in seiner linken Kralle einen Zepter, an dessen Spitze ein weiterer, kleinerer Doppeladler sitzt. Und das ukrainische Wappen zeigt einen goldenen Dreizack. Jetzt sagen die Leute folgendes: Es wird doch niemand glauben, dass ein Land mit einem Hühnchen im Wappen ein Land besiegen kann, das eine Gabel im Wappen führt.

In meiner Wohnung steht ein kleiner Koffer. Manchmal packe ich ihn ein, dann packe ich ihn wieder aus – ich kann mich nicht entscheiden, was ich mitnehmen würde, wenn ich doch flüchten? Mein Leben, meine Freunde, meine Stadt, meine Heimat passen ja doch nicht hinein.

Nein, ich werde nicht weggehen.