Wo tut’s denn weh?

Wirtschaftssanktionen sollen Russlands Führungselite zum Einlenken bewegen. Wichtiger dürfte aber etwas ganz anderes sein als die vom Westen verhängten Strafmaßnahmen.


MARTIN STAUDINGER

09.03.2022

Russlands Oligarchen müssen wegen der Sanktionen um Yachten, Privatjets und anderes Bling-Bling bangen Foto: Screenshot Twitter

Die Geschichte der Wirtschaftssanktionen ist die Geschichte eines Missverständnisses – dass sie scheußliche Regimes zur Räson bringen können, nämlich. Ich lasse mich gerne eines Besseren belehren, aber mir fällt nur ein Beispiel ein, in dem das nachweislich geklappt hat: Beim Apartheid-System in Südafrika Ende der 1980-er Jahre.

Aber sonst? Scheinen sie mir eher in die Kategorie schwarze Pädagogik zu fallen: Der Westen setzt sie gegen Widersacher ein, gegen die er keine militärischen Maßnahmen ergreifen kann oder will. Mit überschaubarem Erfolg. In Nordkorea sitzt noch immer breit und bräsig Kim Jong-Un herum, das Mullah-Regime im Iran hält sich ebenfalls hartnäckig und Nicolas Maduro in Venezuela denkt auch nicht daran, klein beizugeben.

Man kann höchstens sagen: Wer weiß, ob es ohne Sanktionen nicht noch schlimmer gekommen wäre. Aber das ist halt auch ein bisschen wenig.

Im Fall von Wladimir Putin ist es eigentlich gar nichts. Der Kreml-Chef hat sich von bereits seit 2014 bestehende Sanktionen, die unter anderem wegen der Annexion der Krim verhängt wurden, keineswegs von noch Schlimmerem abhalten lassen. Aber in Russland haben wirtschaftliche Strafmaßnahmen aus dem Westen ja schon Tradition: Im Kalten Krieg waren sie so etwas wie eine Dauereinrichtung. 1981 verhängte US-Präsident Ronald Reagan beispielsweise ein Embargo gegen die UdSSR, schon damals ging es um den Bau einer Erdgaspipeline aus Sibirien.

Zu Fall gebracht wurde die Sowjetunion dadurch aber nicht – das lag an anderen Faktoren, deren Erörterung hier zu weit führen würde.

Jetzt also der nächste Versuch, mit Sanktionen ein Regime zur Einsicht oder gar ins Wanken zu bringen, diesmal mit besonderer Wucht auf vielen Ebenen.

Über die Erfolgsaussichten gleich mehr nach wichtigen Ereignissen der vergangenen Stunden:

  • Militärisch hat sich die Lage seit gestern kaum geändert. Experten weisen aber darauf hin, dass kaum etwas über den langsamen, aber stetigen Vormarsch der russischen Truppen im Osten der Ukraine an die Öffentlichkeit dringt. Das Bild im Westen wird dadurch geprägt, dass die Angriffsspitzen der Kreml-Armee naturgemäß auf erbitterten Widerstand treffen, dementsprechende Verluste erleiden, und das in den sozialen Medien dokumentiert und verbreitet wird. Russland hat im Gegensatz zu den ukrainischen Streitkräften aber die Ressourcen, Ausfälle zu ersetzen – neue Videos zeigen offenbar Züge mit Nachschub, der zusätzlich zu den bereits 150.000 im Einsatz befindlichen Soldaten an die Front gebracht wird.
  • US-Präsident Joe Biden hat ein Importverbot für russisches Erdöl und Erdgas verhängt, Großbritannien will Ende des Jahres aus russischen Energieträgern aussteigen.
  • Wladimir Putin sei nicht verrückt, aber seine Ansichten hätten sich in den vergangenen Jahren „verhärtet“ – und er sei fest entschlossen, die Ukraine unter Kontrolle zu bringen, so die Einschätzung von CIA-Direktor William J. Burns bei einem Hearing vor dem Geheimdienst-Ausschuss des US-Repräsentantenhauses: „Das macht es extrem schwierig, mit ihm umzugehen“, wird Burns in der New York Times zitiert.
  • Nach Apple, Samsung, Microsoft und anderen Markenkonzernen stellen nun auch McDonalds, Starbucks und Coca-Cola den Verkauf ihrer Produkte in Russland ein.
  • Vergangenes Wochenende sind hier im Ukraine-Update Tagebucheinträge des Journalisten und Schriftstellers Stanislaw Asejew aus dem belagerten Kyiv erschienen. Mehr davon finden Sie im aktuellen FALTER und unter diesem Link.

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Die Russland-Sanktionen zielen auf eine überschaubare Zahl von Personen, die prinzipiell durchaus in der Lage wären, auf Wladimir Putin einzuwirken oder gar eine Palastrevolte anzuzetteln: Die Angehörigen des kleinsten, vor allem aus ehemaligen Geheimdienstlern („Silowiki“) bestehenden Kreises um den Kreml-Chef – und die Oligarchen. Wirklich unangenehm sind ihre Auswirkungen derzeit aber eigentlich nur für den oberen Mittelstand.

Warum von keiner der drei genannten Gruppen eine unmittelbare Gefahr für das System Putin ausgeht:

  • Die Silowiki

Den Angehörigen des engsten Kreises um den Kreml-Chef war zweifellos bewusst, dass der Krieg gegen die Ukraine zu Strafmaßnahmen führen würde, die direkt auf sie zielen. Daher ist nicht zu erwarten, dass sie sich davon beeindrucken lassen. Zudem sind sie so sozialisiert, dass es ihnen schon aus prinzipiellen Gründen kaum einfallen würde, sich von Putin loszusagen (einen guten Text über das Mindset der russischen Machtelite hat Gerald Heidegger gerade auf orf.on geschrieben): Sie lehnen den Westen, seine Kultur und seine Werte generell ab und haben entsprechend wenig Probleme damit, dort geächtet zu sein.

Und last but not least profitieren einige (und zwar nicht unmaßgebliche) Betroffene sogar von der Isolation Russlands. Nikolai Patruschew, Chef des russischen Sicherheitsrats beispielsweise: Sein Sohn Dmitri ist seit 2018 Landwirtschaftsminister und damit verantwortlich für einen Sektor, der in den vergangenen Jahren ein spektakuläres Wachstum hingelegt hat: Seit Putin ab 2014 immer neue Importstopps für Rohstoffe und Nahrungsmittel verhängt hat, ist die Eigenproduktion stark gestiegen – mit entsprechenden Gewinnen für die Beteiligten auf staatlicher Seite. Ähnlich die Technologiegesellschaft Rostec, die von Sergei Wiktorowitsch Tschemesow, einem persönlichen Freund Putins aus gemeinsamen KGB-Tage in der DDR, geleitet wird.

  • Die Oligarchen

Man kann sich die Schadenfreude ja kaum verkneifen: Russische Oligarchen, deren Lebensinhalt in den vergangenen 20 Jahre darin bestand, mit ihrem aus der Konkursmasse der UdSSR ergaunerten Reichtum im Westen zu protzen und zu prassen, müssen plötzlich um das geliebte Bling-Bling bangen – Jachten werden konfisziert, Konten eingefroren, Einreiseverbote verhängt: „Kein Shopping mehr in Mailand, keine Party in Saint Tropez, keine Diamanten in Antwerpen“, twitterte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell spöttisch (und löschte den Tweet umgehend wieder).

Ob das Wirkung zeigt, ist allerdings fraglich. Olga Chyzhm, Professorin an der Universität Toronto meint: Nein. Denn die Oligarchen sind letztlich auf Gedeih und Verderb von Putin abhängig. Lässt er sie fallen oder fällt er selbst, dann sind sie nicht nur ihre Besitztümer im Westen los, sondern auch jene in Russland – und anschließend da wie dort verfemt. Sie haben also alles zu verlieren, wenn sie sich gegen den Kreml stellen.

  • Der Mittelstand

Laut dem Meinungsforscher Valerij Fedorov treffen die Sanktionen vor allem die obere und durchschnittliche Mittelklasse: Leute, die es sich leisten konnten, in Europa oder anderswo Urlaub zu machen, westliche Markenprodukte zu kaufen, Immobilien im Eigentum zu erwerben – und die entsprechende Kredite laufen haben. Jetzt müssen sie mit schmerzhaften Einschränkungen ihres Lebensstils klarkommen. Aber sie machen zusammengenommen nur rund 20 Prozent der Bevölkerung aus. Die restlichen 80 Prozent spüren die Sanktionen umso weniger, je weniger begütert sie sind. Von der Masse der Bevölkerung ist daher auch kein nennenswerter politischer Druck zu erwarten (zumal sie, siehe unser gestriges Ukraine-Update, auch vorsorglich davon überzeugt wurden, dass die Invasion in der Ukraine einem guten Zweck dient und abgesehen davon der Westen an allem schuld ist).

Das große „Aber“ lautet allerdings: Die Sanktionen treffen die Wirtschaft Russlands hart. Der Rubel verfällt, die Einkünfte aus Öl und Gas gehen zurück. Setzt sich diese Entwicklung fort, könnte es dem Kreml bald schwerfallen, den öffentlichen Sektor zu zahlen, vermutet Olga Chyzh: Ärztinnen, Lehrer, Polizisten – und nicht zuletzt das Militär selbst. Ob dieser Fall je eintritt und wie sich das dann auswirkt, weiß niemand.

Die CIA glaubt jedoch eines zu wissen: Putin, so die Einschätzung des oben bereits zitierten Geheimdienstchefs Willam S. Burns, sei im Moment durchaus verunsichert – durch den heftigen Widerstand in der Ukraine, die geschlossene Reaktion des Westens (und hier besonders Deutschlands, das völlig unerwartet entscheiden hat, Waffen ins Kriegsgebiet zu liefern) und nicht zuletzt durch die mangelnden Erfolge seines eigenen Militärs.

Und das könnte (wenn es denn stimmt) in der aktuellen Situation bedeutsamer sein als alle Sanktionen zusammen.