Russlands Funke auf dem Balkan

Der fragile Friede am Balkan könnte massiv durch den Ukrainekrieg destabilisiert werden – mit voller Absicht Russlands


MARTIN STAUDINGER

07.03.2022

Heute schreibt meine Kollegin Nina Brnada über die Auswirkungen des Krieges in der Ukraine auf den Frieden am Balkan.

Vorher aber noch die wichtigsten Entwicklungen des Wochenendes:

  • Die Evakuierung von 400.000 Menschen aus der Stadt Mariupol funktioniert nicht, Russen und Ukrainer beschuldigen einander gegenseitig die Waffenruhe zu missachten
  • Die UNO vermeldet bereits 1,5 Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine
  • Bei der Flucht aus der Stadt Irpin sollen mindestens drei Menschen während der Flucht getötet worden sein, berichtet die New York Times
  • In Russland, wo es vereinzelt Anti-Kriegsdemos gab, wurden 3500 Menschen festgenommen

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Von Nina Brnada

Während in vielen europäischen Städten die ukrainische Flagge gehisst wird, die Menschen aus Solidarität auf die Straßen gehen, schießen in Belgrad russische Flaggen in die Höhe. Transparente mit dem Buchstaben Z wandern durch die Straßen und werden auf den Asphalt gepinselt. Das „Z“ ist auf russische Panzer gepinselt, was es genau bedeutet, gibt der Kreml nicht preis, in den vergangenen Tagen ist es zur Chiffre der brutalen Invasion und Putins Aggression geworden. Angesichts des Leides der Ukrainer sind es gespenstische Bilder. Olexander Scherba, ehemaliger ukrainische Botschafter in Österreich, bringt es auf dem Punkt, indem er twittert: „Was stimmt nicht mit dir, Serbien?“

Natürlich gibt es auch ein anderes Serbien. Tage später gingen, auch in Belgrad, viele Serben gegen den Einmarsch auf die Straße, sie trugen eine überdimensionierte ukrainische Flagge durch die Straßen. Nur haben diese Leute dort nicht das Sagen.

Lange hatte sich Präsident Aleksandar Vučić geweigert, den Einmarsch Russland in die Ukraine zu verurteilen oder gar Sanktionen mitzutragen. Nun unterschrieb Serbien auf großen Druck des Westens eine UN-Resolution, die die Invasion verurteilt, immerhin – Sanktionen aus Belgrad gibt es gegen Moskau aber weiterhin nicht.

Vučić hat in weniger als einem Monat eine Wahl zu schlagen und dabei einen Drahtseilakt zu vollführen. Er muss den Westen besänftigen und gleichzeitig auf das Sentiment der rechten Wähler Rücksicht nehmen, die große Sympathien für Wladimir Putin hegen, analysiert der langjährige serbische Journalist Boško Jakšić in einem Interview mit Al Jazeera Balkans. Falls er die prorussischen Proteste nicht selbst organisiert hat, so würde er sie mit Wohlwollen gutheißen.

Das alles ist nicht nur eine moralische Bankrotterklärung, sondern ganz konkret gefährlich. Dazu reicht der Blick nach Bosnien und Herzegowina. Lange Kolonnen warten vor den Tankstellen, Mehl, Öl und Zucker in den Supermärkten sind Mangelware: Die Menschen bereiten sich auf einen Krieg vor.

Sie ahnen, dass Putins Funke aus der Ukraine auch auf Bosnien und Herzegowina überspringen könnte; einem Land, das vor 30 Jahren bereits einen Krieg erlebt hat, seither in zwei Teile geteilt ist, wobei die serbische Republika Srpska und der Serbenführer Milorad Dodik ständig mit Abspaltung drohen. Es wäre für Russland leicht, hier noch weiter den Konflikt anzufachen, beispielsweise indem es die Republika Srpska anerkennt. Bisher galt das als wenig wahrscheinlich, aber was zählt alles, was bisher als wahrscheinlich oder unwahrscheinlich galt?

Provokationen werden jetzt schon gezielt gesetzt. Erst vergangene Woche beispielsweise, während schwerer Gefechte in der Ukraine, vermeldete die russische Botschaft in Bosnien und Herzegowina die Meldung eines Telefonats zwischen dem bosnischen Serbenführer Dodik und dem russischen Außenminister Sergej Lawrow. EU und Nato würden immer stärker versuchen, den Friedensvertrag von Dayton aus dem Jahr 1995 „zum Schaden des Volkes der Republika Srpska“ zu verändern, jammert Dodik. Und zeigte „Verständnis“ für die Entscheidungen des Kreml im Fall der Ukraine.

Gerald Knaus vom Think Tank Europäische Stabilitätsinitiative, ein langjähriger Beobachter und Kenner der Lage am Balkan, warnt in diversen Medienauftritten eindringlich vor möglichen Eskalationen in Bosnien und ruft die EU zu einer echten Perspektive für einen EU-Mitgliedschaft für den gesamten so genannten Westbalkan auf.

Die Frage ist, ob es dafür nicht schon viel zu spät ist.