Farbe am Zaun, Blut auf der Straße

Eine „barbarische Aktion“ gegen Russland in Wien und die durchsichtige Aufregung darüber.


MARTIN STAUDINGER

07.03.2022

Anderswo fließt wirklich Blut: Farbattacke auf den Zaun der russischen Botschaft in Wien Foto: Russische Botschaft/Twitter

Es war eine „barbarische Aktion“ zu beklagen: Grellrot tropfte es am Sonntagnachmittag von einem Metallzaun, auf der darunterliegenden Mauerbrüstung breitet sich eine Lacke aus.

Nein, die Rede ist nicht von Charkiv, Mariupol, Mykolajiw oder jener Straße nach Kyiv, auf der sich vorgestern fast zeitgleich eine Blutlacke unter den Leichen einer vierköpfigen Familie bildete, die auf der Flucht vor der Front von einer russischen Granate ausgelöscht worden war (Vorsicht, bevor Sie auf den Link klicken, das Bild ist erschütternd).

Wir reden vielmehr von der Reisnerstraße im 3. Wiener Gemeindebezirk. Dort hatte jemand einen Beutel mit roter Farbe gegen die Abzäunung der russischen Botschaft geschleudert. Das – und nicht der mörderische Beschuss von Zivilisten und ziviler Infrastruktur in der Ukraine – veranlasste Wladimir Putins Diplomaten in Wien dazu, eine „barbarische Aktion“ zu beklagen und Protest beim österreichischen Außenministerium einzulegen.

Bevor wir zum Hintergrund des Vorfalls kommen, wie immer die wichtigsten Ereignisse der vergangenen Stunden:

  • Russland hat Bedingungen formuliert, unter denen es seine Militäroperation sofort beenden würde: Anerkennung der Halbinsel Krim als russisches Territorium und der beiden Rebellen-Republiken Donetsk und Luhansk als unabhängige Staaten; sowie eine Verfassungsänderung, die sicherstellt, dass die Ukraine „keinem Block“ (sprich: weder der Nato noch der EU) beitritt. Die Ukraine hat das ersten Berichten zufolge vehement abgelehnt.
  • Die Evakuierung der Zivilbevölkerung aus der eingekesselten Stadt Mariupol hat gestern erneut nicht funktioniert. Sollte es irgendwann klappen, ist allerdings zu bedenken: Auch wenn erfahrungsgemäß nur ein Teil der Zivilisten in Sicherheit gebracht werden kann, dürfte Russland anschließend alle weiterhin im Kampfgebiet befindlichen Personen als Kombattanten oder Terroristen betrachten – das war zumindest in Syrien so, wo die Luftwaffe des Kremls nach Evakuierungsaktionen in Städten wie Aleppo ganze Viertel dem Erdboden gleichmachte.
  • Die ukrainische Regierung hat Angebote des Kremls, „humanitäre Korridore“ für Städte wie Charkiw oder Sumy einzurichten, gestern zunächst abgelehnt. Grund: Die meisten der Routen sollen nach Russland oder Belarus führen; zudem befürchtet man in Kiew, der russischen Propaganda damit Stoff für angebliches humanitäres Engagement in der Ukraine zu liefern. Nach einer dritten Verhandlungsrunde mit russischen Emissären ist die Idee aber wieder auf dem Tisch und soll heute noch umgesetzt werden.
  • Der Vormarsch der russischen Truppen ist währenddessen vorübergehend mehr oder weniger zum Stillstand gekommen. Offenbar sind sie damit beschäftigt, Nachschub zu organisieren und sich für weitere Angriffe neu zu positionieren.
  • Die ukrainischen Streitkräfte liefern den Angreifern einen zähen Abwehrkampf, ihre Truppen östlich des Flusses Dnepr riskieren aber mit jedem Tag mehr, vom Rest des Landes abgeschnitten zu werden.
  • Immer häufiger kommen auf russischer Seite verbotene Waffen zum Einsatz ­– etwa Clusterbomben, die eine Vielzahl von kleinen Sprengsätzen über einem Ziel verteilen. Abgesehen davon, dass diese Munition äußerst unpräzise ist: Erfahrungsgemäß explodiert nur ein Teil der „Bomblets“ sofort, von den Blindgängern geht in der Folge eine Langzeit-Gefahr für die Bevölkerung aus.
  • Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat bis gestern mindestens 16 Angriffe russischer Truppen auf ukrainische Gesundheitseinrichtungen verifiziert: „Noch mehr Vorfälle werden derzeit untersucht“, so ein WHO-Sprecher auf Twitter. Die Ukraine spricht von 34 zerstörten Spitälern.
  • Die Zahl der ukrainischen Flüchtlinge hat inzwischen 1,7 Millionen überschritten.

***

Spott und Hohn darüber, wie sich Russland mit ihrer Aufregung über die Farbattacke in Wien zum Affen machte, dürfte dem Außenministerium in Moskau aber vermutlich herzlich egal sein: Denn Adressat der Aufregung sind ohnehin nicht diejenigen, die sich auf Twitter und Facebook darüber empören – es ist die russische Öffentlichkeit (oder das, was der Kreml von ihr übriggelassen hat).

Das führt zur Frage, wie die Bevölkerung in Russland den Krieg in der Ukraine wahrnimmt. Wir sehen Bilder von Protesten und brutalen Verhaftungen in Moskau: Wenn sich dort sogar hochbetagte Babuschkas der Polizei entgegenstellen und kleine Kinder abgeführt werden) – ist das Regime dann nicht ohnehin am Ende?

Das ist ein verführerischer, aber irreführender Gedanke. Denn Moskau ist bekanntlich nicht Russland. Und unsere Einschätzung, was das Verhältnis zwischen Regierungskritik, -begeisterung und -wurstigkeit der dortigen Bevölkerung betrifft, basierte schon in vergleichsweise normalen Zeiten weniger auf Wissen als auf Wunschdenken.

Was den Krieg gegen die Ukraine betrifft, fehlt sie uns völlig, weil Russland inzwischen komplett zur Black Box geworden ist.

Dass Social-Media-Kanäle von der Regierung blockiert wurden, ist in mehrfacher Hinsicht ein Drama: Die – vor allem jüngeren – Russinnen und Russen, die sich auf Facebook und Twitter ein anderes Bild der „militärischen Spezialoperation“ im südlichen Nachbarland machen konnten als vom Kreml vorgegeben, haben dazu keine Chance mehr; sie können ihre Meinung auch nicht mehr äußern; und das nimmt dem Rest der Welt wiederum jede Möglichkeit, zu erfahren, was sie darüber denken.

Die Älteren wiederum – die gerade draußen am weiten russischen Land oft nicht einmal Zugang zum Internet haben – beziehen ihr Wissen im Wesentlichen aus den Staatsmedien.

Und die Kreml-Propaganda hat für alle, die Jungen wie die Alten, vorgearbeitet: In der „New York Times“ berichten Ukrainer mit Familie in Russland, dass sie bei den eigenen Verwandten dort auf völliges Unverständnis stoßen, wenn sie schildern, was ihnen gerade widerfährt. Selbst ihre Väter, Mütter und Geschwister auf der anderen Seite der Grenze sind zutiefst überzeugt davon, dass die Invasion tatsächlich nur eine „militärische Spezialoperation“ ist, um das leidende Brudervolk von seinen rechtsextremen Machthabern zu befreien. „Mein Vater hat begonnen, mich anzuschreien und mir gesagt: ,Pass auf, so schaut es aus: Sie (die Regierung in Kiew, Anm.) sind alles Nazis. Und es gibt russische Soldaten, die den Leuten helfen, sie geben ihnen warme Kleidung und Nahrung‘“, erzählt ein Ukrainer fassungslos von einem Telefonat mit seinen Eltern.

Für Menschen wie sie ist die durchsichtige Aufregung der russischen Botschaft über den Farbbeutelwurf gegen ihren Zaun inszeniert. Nicht, dass die hilflose Schmieraktion in Wien per se irgendeine Relevanz hätten. Aber die Nachricht darüber wird in den russischen Staatsmedien auftauchen, genauso dramatisch intoniert wie intendiert. Und sie fügt dem vielteiligen Mosaik, mit dem der Kreml seiner Bevölkerung den Blick auf die Realität verstellt, ein weiteres buntes Steinchen hinzu – ein rotes, das eine „barbarische Aktion“ gegen Russland im schönen Wien beklagt.

Seht, steht darunter geschrieben: Alle sind gegen uns.

Und selbst ein diktatorischer Kriegsherr wie Wladimir Putin ist davon abhängig, dass das möglichst viele seiner Landsleute glauben.