Alle Züge westwärts

Der Journalist und Schriftsteller Stanislav Aseev wartet in Kyiv auf den russischen Großangriff – mit einem Stift und einer Waffe: Teil 3 seines Tagebuchs aus einer belagerten Stadt.


MARTIN STAUDINGER

06.03.2022

Wartende vor der Anzeigetafel am Bahnhof von Kyiv Foto: Stanislav Aseev

Wie bereits gestern und vorgestern überlassen wir das Ukraine-Update auch heute dem Schriftsteller und Journalisten Stanislav Aseev, der aufgrund seiner Arbeit über zwei Jahre von pro-russischen Separatisten in der Ostukraine eingekerkert und gefoltert (mehr über seine Person am Ende des Blogs). Inzwischen lebt er in Kyiv und hat sich bereit erklärt, für den FALTER die Situation in der Stadt zu beschreiben.

Zuvor aber wie immer noch die wichtigsten Ereignisse der vergangenen Stunden:

  • Militärisch hat sich die Situation in der Ukraine seit vorgestern kaum geändert. Im Süden bereiten sich die russischen Truppen auf eine Offensive gegen weitere große Städte, darunter wohl auch Odessa, vor.
  • In der umkämpften Stadt Mariupol sind eine halbe Million Menschen seit Tagen ohne Wasser, Strom und Heizung. Die Waffenruhe entlang eines humanitären Korridors, der es der Bevölkerung erlauben soll, die Kampfzone zu verlassen, wurde offenbar nur teilweise eingehalten.
  • Der Widerstand der ukrainischen Landesverteidiger bleibt heftig. Der österreichische Militärfachmann Franz-Josef Gady vermutet, dass die Verluste der Angreifer „ein Ausmaß erreichen, mit dem diese Operation nicht für Monate aufrechterhalten werden kann, sondern eher nur einige Wochen“.
  • Auch in bereits von russischen Truppen eingenommenen Städten von Cherson kommt es zu Protesten der Zivilbevölkerung gegen die Besatzer.
  • Das russische Außenministerium verurteilte „einseitige und empörende Äußerungen österreichischer Regierungsvertreter über Russland in Bezug auf die Situation in der Ukraine“ und meldet „ernsthafte Zweifel an der Qualität der in letzter Zeit merklich sinkenden und erodierenden Wiener ,Neutralität'“ an: „Wir werden das in Zukunft berücksichtigen.“ Antwort aus dem österreichischen Außenministerium: „Wir sind politisch niemals neutral, wenn es um die Achtung des Völkerrechts geht. Wir sind keineswegs neutral gegenüber Gewalt und wir werden nie schweigen, wenn die Souveränität, territoriale Integrität und Unabhängigkeit eines Staates angegriffen wird.“
  • Israels Ministerpräsident Naftali Bennett ist überraschend zu Gesprächen mit Wladimir Putin in Moskau eingetroffen und anschließend zu Bundeskanzler Olaf Scholz nach Berlin weitergereist.
  • Zahlreiche internationale Medien wie CNN und BBC haben ihre Berichterstattung aus Russland eingestellt. Grund sind Zensurmaßnahmen und Knebelgesetze, die es beispielsweise unter Strafe stellen, die Invasion in der Ukraine als „Krieg“ zu bezeichnen.
  • Immer mehr Markenkonzerne stellen den Vertrieb und Verkauf ihrer Produkte in Russland ein – zuletzt Apple und Samsung, von denen mehr als die Hälfte der Smartphones stammt, die dort am Markt sind.

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Stanislav Aseev: „Vor zwei Tagen hätten die Russen den Bahnhof fast mit einer Rakete getroffen“

Der Bahnhof in Kyiv bleibt der einzige Ort für Massenevakuierungen aus der Hauptstadt. Gleichzeitig sind am Bahnhof selbst nicht so viele Menschen. Probleme treten nur bei Ankunft des Zuges auf.

Wenn Sie sich die Anzeigetafel ansehen, fahren alle Züge in westliche Richtung. Lemberg, Ivano-Frankivsk, Ternopil, Transkarpatien und sogar Wien. Die Priorität ist dabei wie folgt gegliedert: zuerst dürfen Fahrgäste mit Fahrkarte in den Wagon, dann diejenigen, die bereit sind, im Gang zu stehen wie Frauen und Kinder, und am Ende alle anderen. Trotzdem herrscht beim Einsteigen in den Zug das komplette Chaos. Meine Bekannte ist vorgestern mit einer Fahrkarte nach Zakarpatien gefahren, und trotzdem musste sie dem Schaffner zusätzlich Geld geben, damit er sie buchstäblich aus der Menge in den Wagon zerrte.

Am Eingang der Station stehen Kämpfer der Territorialverteidigung, die stichprobenartig Dokumente kontrollieren. Vor zwei Tagen hätten die Russen den Bahnhof fast mit einer Rakete getroffen, deren Splitter in die Nähe des Gebäudes fielen. Die Evakuierung hört auch während des Beschusses nicht auf.

Schon zwei Kilometer vom Bahnhof entfernt liegt die Stadt im Sterben und man sieht für Kyiv ungewöhnlich leere Plätze und Straßen.

Übersetzt von Ingrid Gössinger