„Fick dich!“

Der Journalist und Schriftsteller Stanislav Aseev wartet in Kyiv auf den russischen Großangriff – mit einem Stift und einer Waffe: Teil 2 seines Tagebuchs aus einer belagerten Stadt.


MARTIN STAUDINGER

05.03.2022

Anzeigetafel in Kyiv: "Russischer Soldat, stopp! Beende kein Leben für Putin. Geh nach Hause mit einem reinen Gewissen!“ Foto: Aseev

Wie gestern angekündigt, überlassen wir das Ukraine-Update in den folgenden Tagen dem Schriftsteller und Journalisten Stanislav Aseev, der aufgrund seiner Arbeit über zwei Jahre von pro-russischen Separatisten in der Ostukraine eingekerkert und gefoltert (mehr über seine Person am Ende des Blogs). Inzwischen lebt er in Kyiv und hat sich bereit erklärt, für den FALTER die Situation in der Stadt zu beschreiben.

Zuvor aber wie immer noch die wichtigsten Ereignisse der vergangenen Stunden:

  • Die Nato hat deutlich zu verstehen gegeben, dass sie nicht militärisch in den Krieg eingreifen wird. Damit ist auch die Einrichtung einer Flugverbotszone vom Tisch, wie sie von der Ukraine gefordert worden war. „Wir verstehen die Verzweiflung, aber wenn wir das tun würden, dann würden wir in etwas hineingeraten, das zu einem vollwertigen Krieg in Europa führt, in den sehr viel mehr Länder hineingezogen werden und der noch mehr Leid verursacht“, so Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg: „Wir werden Unterstützung gewähren, aber wir werden nicht Teil des Konflikts sein.“
  • In den USA wird darüber debattiert, ob die Sanktionen gegen Russland nicht zu schnell und zu wuchtig erfolgen: Kreml-Chef Wladimir Putin, fürchten Strategen, könnte sich dadurch in die Enge getrieben fühlen und den Konflikt über die Ukraine hinaus eskalieren – etwa durch Cyberangriffe auf das US-Finanzsystem.
  • Ein Telefonat zwischen dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz und Putin brachte gestern genauso wenige Fortschritte wie Tags zu vor ein Gespräch mit dem französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron. Offiziellen Angaben zufolge verwies der Kreml-Chef bloß auf eine dritte Gesprächsrunde zwischen der Ukraine und Russland, die dieses Wochenende geplant ist.
  • Russland hat inzwischen offenbar 90 Prozent der 150.000 Soldaten, die an der Grenze zusammengezogen wurden, in den Krieg geschickt. Die Zahl der aus der Ukraine geflüchteten Personen hat eine Million überschritten, mindestens 160.000 sollen innerhalb des Landes vertrieben worden sein.
  • Am Frontverlauf hat sich seit gestern wenig geändert. Bei den Kämpfen um das AKH Saporischschja in der Südukraine wurde glücklicherweise keiner der sechs Reaktoren beschädigt, es trat auch keine Radioaktivität aus. In der Ukraine gibt es neun weitere Atommeiler an drei Standorten ­– einem ebenfalls in der Südukraine, zwei im Westen des Landes.

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Stanislav Aseev: „Niemand kann sagen, wie viele Saboteure noch in der Stadt sind“

Kyiv ist das wichtigste strategische Ziel Russlands im aktuellen Krieg. Die russische Propaganda hat wiederholt erklärt, dass die Stadt vollständig eingekreist wurde und kurz vor dem Fall steht. Es muss gesagt werden, dass dies nicht nur nicht den Tatsachen entspricht, sondern die Russen wollten Kyiv in den ersten zwei Tagen sogar im Blitzkrieg einnehmen. Eine Woche lang kamen sie nicht einmal annähernd an eine vollständige Einkreisung heran.

Die geografische Lage von Kyiv ist wie folgt: die wichtigsten russischen Streitkräfte konzentrieren sich jetzt im Nordwesten und Nordosten der Hauptstadt, wo sie sich während schwerer Kämpfe aus Belarus und durch Chernigov näherten. Wie schwer und anstrengend diese Kämpfe für die Russische Föderation waren, lässt sich an der Tatsache ablesen, dass sie beschlossen, Chernigov zu umgehen und sich sofort in Richtung Hauptstadt bewegten. Die Russen hatten nicht die Kraft, zwei Städte gleichzeitig einzunehmen.

Parallel dazu versuchten kleine Gruppierungen der Russischen Föderation, darunter die Leute von Ramzan Kadyrov (kadyrovci), in die Stadt einzudringen und die Verteidigung der Hauptstadt zu unterbinden. Diese wurden vor zwei Tagen noch von zahlreichen Sabotagegruppen unterstützt, die, nach Aussage von Gefangenen, bereits vor einigen Monaten in Kyiv eingesickert waren. Alle diese lokalen Streitkräfte wurden bereits ausgeschaltet, sodass Kyiv nun unter der vollständigen Kontrolle der ukrainischen Streitkräfte und territorialer Verteidigungseinheiten steht.

Niemand kann jedoch sagen, wie viele Saboteure noch in der Stadt sind. Sie verkleiden sich als ukrainische Soldaten und Polizisten und erschießen die echten aus nächster Nähe. Oft benutzen sie Krankenwagen, um sich durch die Stadt zu bewegen, oder sie versuchen, Sprengstoff an überfüllten Orten zu platzieren, um mit einer Explosion Panik auszulösen.

Deshalb herrscht auf den Straßen in Kyiv eine sehr angespannte Atmosphäre. Überall stehen Checkpoints der Territorialverteidigung, die Dokumente prüfen oder eine elektronische Version verlangen, denn Saboteure haben oft einen gefälschten ukrainischen Pass.

Die Stadt hat eine Ausgangssperre. Zwischen 20 Uhr abends und 7 Uhr früh ist die Fortbewegung zu Fuß strengstens verboten. Wer das tut, wird automatisch dem Feind gleichgesetzt und erschossen. Was Autos betrifft, so ist ihre Bewegung während der Ausgangssperre nur mit Sonderausweisen, die von der Militärgarnison der Hauptstadt ausgestellt werden, möglich.

Tagsüber sind nur Lebensmittelgeschäfte und Apotheken geöffnet. Die Warteschlangen für Lebensmittel können bis zu 200 Personen lang sein, obwohl es keinen Mangel an Lebensmitteln gibt. Einfacher ist es bei Apotheken, wo man nur durchschnittlich eine halbe Stunde anstehen muss. Gleichzeitig heult in der Stadt ständig die Sirene der Luftverteidigung, die einen Luftangriff der Russen ankündigt. Aber die Menschen stehen weiterhin Schlange, als wäre nichts passiert.

Zusätzlich muss man die Propaganda erwähnen, die für die Russen überall in der Stadt auf Plakatwänden und elektronischen Werbetafeln platziert wurde. Fast jede ist an russische Soldaten adressiert:

„Russischer Soldat, stopp. Werde kein Mörder! Schleich dich und bleib Mensch.“

„Russischer Soldat, stopp. Wie kannst du deinen Kindern noch in die Augen sehen? Schleich dich und bleib Mensch.“

„Russischer Soldat, stopp. Töte kein Leben für Putin! Geh mit gutem Gewissen nach Hause.“

Häufiger wenden sich jedoch die Werbetafeln an russische Soldaten nach dem Beispiel der Verteidiger auf der Schlangeninsel. Der Aufruf ist bereits zum Meme geworden.

„Russischer Soldat, fick dich!“

Aus Kyiv kommt man jetzt hauptsächlich mit der Bahn raus. Die Straßen sind gesperrt und die Soldaten lassen Autos mit Sonderpässen durch. Der Bahnverkehr verläuft hauptsächlich in westlicher Richtung, wenn allerdings die Evakuierungszüge eintreffen, beginnt das komplette Chaos. Ich werde versuchen, darüber gesondert zu berichten.

Anmerkung: 13 Grenzsoldaten starben auf einer der ukrainischen Hafenstadt Odesa vorgelagerten Insel mit Namen Schlangeninsel, weil sie sich den russischen Truppen eines Kriegsschiffes nicht ergaben. Ein ukrainischer Beamter verbreitete eine unbestätigte Aufnahme, die den Austausch zwischen den Streitkräften dokumentieren soll. Demnach forderte ein russischer Marineoffizier die ukrainischen Truppen auf, sich zu ergeben „Dies ist ein russisches Kriegsschiff. Ich schlage vor, Sie legen Ihre Waffen nieder und ergeben sich, um Blutvergießen und unnötige Opfer zu vermeiden. Andernfalls nehmen wir Sie unter Feuer.“

Die ukrainischen Grenzschützer antworteten nur: »Russisches Kriegsschiff, fick dich!«

Kyiv, 2. März

Übersetzung und Anmerkungen von Ingrid Gössinger