Das Böse und seine seltsamen Geräusche

Der Journalist und Schriftsteller Stanislav Aseev wartet in Kyiv auf den russischen Großangriff – mit einem Stift und einer Waffe: Teil 1 seines Tagebuchs aus einer belagerten Stadt.


MARTIN STAUDINGER

04.03.2022

Stanislav Aseev: Zweieinhalb Jahre in der Ostukraine eingekerkert und gefoltert Foto: privat

In den kommenden Tagen überlasse ich das Ukraine-Update an einen bemerkenswerten Kollegen aus der Ukraine: Stanislav Aseev wurde aufgrund seiner Arbeit fast zweieinhalb Jahre von pro-russischen Separatisten in der Ostukraine eingekerkert und gefoltert (mehr über seine Person am Ende des Blogs). Im Dezember 2019 wurde er freigelassen und lebt seither in Kyiv. Jetzt hat er sich bereit erklärt, für den FALTER die Situation in der Stadt zu beschreiben, die bereits unter russischem Beschuss steht und wohl bald mit einem Großangriff rechnen muss.
Vorher aber noch kurz die wichtigsten Entwicklungen der vergangenen Stunden:

  • Nach einem Telefonat zwischen Wladimir Putin und dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron äußerte sich der Élysée-Palast äußerst pessimistisch: Der Kreml-Chef habe klar gemacht, dass er Kontrolle über die gesamte Ukraine anstrebt. Aus Sicht Russlands verlaufe die Militäraktion (das Wort „Krieg“ hat Putin ja verbieten lassen) „plangemäß“.
  • Die russischen Truppen haben zwar Nachschubschwierigkeiten, rücken aber immer weiter auf ukrainisches Territorium vor. Im Süden kontrollieren sie bereits den Großteil der Küste östlich von Odessa, im Osten haben sie mehrere wichtige Städte eingekreist, von Norden her beginnen sie, einen Belagerungsring um Kyiv zu ziehen.

  • Bei einer Sitzung des russischen Sicherheitsrats hat Putin öffentlich Truppenverluste eingestanden – mit einer wenige Sekunden langen „Gedenkminute“ für die Gefallenen. Ukrainische Quellen geben die Zahl der getöteten russischen Soldaten inzwischen mit bis 9000 an.

  • Eine zweite Gesprächsrunde zwischen Russland und der Ukraine, die gestern in Belarus stattfand, verlief ohne substanzielle Ergebnisse. Die Emissäre konnten sich bloß auf die Lieferung von Nahrungsmitteln und Medizin in schwer umkämpfte Gebiete sowie humanitäre Korridore zur Evakuierung der Zivilbevölkerung einigen.
  • Immer mehr EU-Staaten kündigen Waffenlieferungen an die Ukraine an – darunter sowohl Nato-Mitglieder wie Estland, Lettland, Polen und Tschechien als auch die neutralen Länder Schweden und Finnland.
  • Das US-Verteidigungsministerium hat gestern bereits geplante Raketentests abgesagt. Grund dafür sind die Drohungen Putins mit dem russischen Atomarsenal. Jetzt wollen die Vereinigten Staaten signalisieren, dass sie nicht beabsichtigen, die Einsatzbereitschaft ihrer Nuklearwaffen zu erhöhen, erklärte Pentagon-Sprecher John Kirby.
  • Update, 4. März, 8 Uhr: Das AKW Saporischschja in der Südukraine wurde nach schweren Kämpfen offenbar von russischen Truppen eingenommen. Die Reaktoren wurden nach offiziellen Angaben sicher heruntergefahren, die Meiler sind unbeschädigt, es ist keine Radioaktivität ausgetreten.

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Stanislav Aseev: „Das Schicksal der ganzen Welt ist jetzt hier“

Jetzt, während ich diese Zeilen schreibe, dröhnt eine Sirene der Luftverteidigung vor meinem Fenster, und russische Flugzeuge werfen Raketen auf die Stadt ab. Das ist Kyiv, wo der Sirenenalarm an nur einem Abend schon dreimal laut dröhnte. Dabei kommt die Nacht aber erst. Vor einer Woche bin ich noch morgens in einem Vorort von Kyiv von lauten Explosionen aufgeweckt worden. Aber mein Bewusstsein verband den Klang nicht sofort mit der Ursache. Selbst in einem Land, das sich seit acht Jahren im Krieg befindet, merkt man nicht gleich, dass man durch den Absturz von Marschflugkörpern aufgeweckt werden kann. Deshalb habe ich weitere zehn Minuten kostbarer Zeit verloren, um das Fenster zu öffnen, um einfach nur still zu stehen und zu lauschen, was am Horizont passiert. Das war ein Fehler, weil bereits jede Minute zählte.
Meine Freunde, die in einer Stunde mit dem Auto auf die andere Seite von Kyiv rasen werden (Anm. die rechte Dnipro Seite, auf der linken Seite befinden sich der Flughafen Boryspil und bevölkerungsreiche Bezirke), sind in riesige Staus oder selbst unter Beschuss geraten. Aber ich hatte Glück, denn nach zehn Minuten verstand ich, dass das „seltsame Geräusch“ Krieg bedeutete. In der folgenden Woche, in der das gesamte ukrainische Volk bereits die Verteidigung gegen eine der mächtigsten Armeen der Welt hält, wird die Zeit und die Lebenserfahrung millionenfach beschleunigt.
Bis zum 24. Februar 2022 hatte ich es in meinem Leben bereits geschafft, sowohl die Besetzung des Donbas zu erleben, russische Panzer und Artillerie in Aktion zu sehen, gefangengenommen zu werden, mich einer Elektroschockfolter auszusetzen als auch zweieinhalb Jahre an einem Ort mit Namen „Izolyatsiya“ zu verbringen, der als ein modernes russisches Konzentrationslager bezeichnet werden kann.
Und doch hat die letzte Woche, mit ihren Marschflugkörpern, Luftbomben und Hunderten von russischen Saboteuren in Kyiv, die sich als ukrainische Soldaten verkleideten, sogar meine Lebenserfahrung beschleunigt. In dieser Woche habe ich es geschafft, meine Mutter in den Westen des Landes zu bringen, vorbei an den schwarzen Rauchschwaden des Bombardements nach Kyiv zurückzukehren, eines der Maschinengewehre abzuholen, die in Kyiv an alle verteilt werden, die eines haben und die Stadt verteidigen wollen, während des Sirenenlärms auszuschlafen, meine Gedanken zu sammeln und sogar diesen Text zu schreiben.

Wenn man den verrückten Opa im Kreml betrachtet, der sich selbst auf Distanz in zehn Meter Entfernung platziert, um nicht getötet oder vergiftet zu werden, dann versteht man, dass das das Böse ist.

Am Ende ist ein Stift das Einzige was mir geblieben ist und was mir gehört, weil ich Journalist bin. Ich habe in der Gefangenschaft geschrieben, auch davor während der Besatzungszeit (Anm. im Separatistengebiet Donetsk), und jetzt schreibe ich zum Klang russischer Raketen. Die Raketen, die alles bombardieren: Kyiv, Kharkiv, Zhytomyr, Sumy, Odessa, Krankenhäuser, Häuser, Militärbasen, Treibstofflager oder gewöhnliche Schuppen. Russland und Putin ist das egal. Die Ukraine existiert für Putin schon längst nicht mehr. Unserem Land wird in Moskau die Existenz abgesprochen. Aber die Tragödie besteht nicht nur darin: es wird der freien Welt, zu der die Ukraine gehört, die Existenz abgesprochen. Hat das russische Außenministerium nicht schon angedeutet, dass Deutschland selbst den Nationalsozialismus nicht vollständig beendet hat? Es hat auch angedeutet, die Nuklearwaffen-Timer auf Spezialmodus zu stellen.
Es ist ganz einfach. Gott existiert wahrscheinlich nicht. Daher existiert das Gute auch nicht. Das Böse, das sich hinter Marschflugkörpern versteckt, soll wohl Frauen davon abhalten, in Kellern zu gebären. Und nochmal. Es gibt das Böse, es ist das moderne Russland. Und es spielt keine Rolle, wie man diesen Buchstaben schreibt – böse oder Böse.
Wenn man den verrückten Opa im Kreml betrachtet, der sich selbst auf Distanz in zehn Meter Entfernung platziert, um nicht getötet oder vergiftet zu werden, dann versteht man, dass das das Böse ist. Etwas Kleines, Verängstigtes, Bösartiges, das mit dem Schicksal der ganzen Welt spielt, wie ein Kind mit einer Sandschaufel. Es spielt keine Rolle, dass seine geformten Sandformen alle Schmerzen und Leiden verursachen, denn Verrückte und Kinder fühlen sie nicht.
Ohne Übertreibung, das Schicksal der ganzen Welt ist jetzt hier, in der Ukraine. Es geht nicht nur um die freie Welt oder um eine Diktatur, die ein Siebtel unseres Planeten einnimmt. Die Frage ist eher, wird es ein Morgen geben? Bis zum Morgen des 24. Februar wusste ich nicht, dass „Ehre der Ukraine!“ die Antwort für alle sein wird.

Kyiv, 1. März
Übersetzt von Ingrid Gössinger

Zur Person:
Stanislav Aseev (geb. 1989) ist ein Schriftsteller und Journalist aus der ostukrainischen Region Donetsk. 2012 schloss er die Nationale Technische Universität Donezk mit einem Bachelor-Abschluss in Philosophie und einen Master-Abschluss in Religionswissenschaften mit Auszeichnung ab.
Von 2015 bis 2017 arbeitete er im besetzten Teil von Donbas als freier Journalist und Publizist für ukrainische Zeitungen wie Wochenspiegel, Ukrainische Wahrheit, Radio Liberty, Die Woche, Die Insel. Er ist Autor von mehr als Hunderten von Reportagen und journalistischen Essays über die besetzten Gebiete, die in einer separaten Sammlung mit dem Titel „In Isolation. Texte aus dem Donbas“ (edition.fotoTapeta) veröffentlicht wurden.
Im Mai 2017 wurde er wegen seiner beruflichen journalistischen Tätigkeit in Donezk gefangen genommen, wo er mehr als zweieinhalb Jahre verbrachte. Nach seiner Freilassung im Dezember 2019 wurde er für seine Berichterstattung über den Krieg in Donbas und die Beschreibung von Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen, die mit Gefangenen in Donezk stattfanden, mit dem Free Media Awards ausgezeichnet. Seit 2020 arbeitet er als Experte für die besetzten Donbas-Gebiete am Ukrainischen Institut für die Zukunft Kyiv.
2021 erschien sein Buch „The Torture Camp on Paradise Street“ (The Old Lion Publishing House) das er nach dem Konzentrationslager Isolyatsiya in der Stadt Donetsk, in dem er 28 Monate inhaftiert war, geschrieben hat. Er beschreibt die menschenquälenden Bedingungen und das System der Folter, bei dem es viel um Elektroschocks gegangen ist.