Der Nazi-Bluff

Was hinter der Behauptung des Kremls steckt, die Ukraine von einem „faschistischen Regime“ befreien zu müssen.


MARTIN STAUDINGER

03.03.2022

Vielleicht haben Sie sich schon gefragt, wie Wladimir Putin auf die Idee kommt, dass in Kiew ein faschistisches Regime herrscht, von dem die Ukraine befreit werden muss: Immerhin ist das der wichtigste Grund, den er für seine Invasion anführt.

Die Behauptung ist nicht neu. Das Nazi-Narrativ gibt es bereits seit längerem, ganz konkret lässt es sich bis ins Jahr 2014 zurückverfolgen.

Darüber gleich mehr, vorher noch ein Überblick über die aktuelle Lage im Krieg gegen die Ukraine:

  • Die russischen Truppen sind mit hohem Tempo dabei, Kyiv und große Städte in der Ost- und Südukraine einzukesseln. Die strategisch wichtige Hafenstadt Cherson ist gestern gefallen.
  • Aus Charkiv und Mariupol wird gemeldet, dass Russland die Zivilbevölkerung per Ultimatum dazu aufgefordert hat, das Stadtgebiet zu verlassen. Im Zentrum von Charkiw wurde ein Regierungsgebäude von einer Rakete getroffen und schwer verwüstet. Immer mehr Berichte dokumentieren den Beschuss von Krankenhäusern, Schulen und kritischer Infrastruktur.
  • Auch in Kyiv schlagen immer mehr Geschosse ein. Dort bereiten sich die Streitkräfte auf einen Sturmangriff vor. Selbst am Maidan, dem Schauplatz des Umsturzes 2014, werden Sandsäcke aufgeschichtet und Panzersperren errichtet.
  • Im Süden der Ukraine waren gestern Kämpfe um das Atomkraftwerk Saporischschja im Gang. Russische Truppen versuchen, den Meiler einzunehmen.
  • Die UNO-Generalversammlung hat eine Resolution verabschiedet, in der die Invasion in der Ukraine verurteilt wird. Außer Russland stimmten nur vier Länder dagegen – Belarus, Nordkorea, Eritrea und Syrien. 34 Länder, darunter China und der Iran enthielten sich.

Also, wo sind die Faschisten?

Kleine persönliche Rückblende: Vor fast exakt acht Jahren wurde ich als Auslandsreporter von profil Augenzeuge, wie russische Truppen die Halbinsel Krim übernahmen (hier meine seinerzeitige Reportage). Auch dort ging damals die Angst vor einer Invasion um – erstaunlicherweise aber nicht vor einer durch die Soldaten ohne Hoheitsabzeichen, die gerade damit beschäftigt waren, einzumarschieren. Sondern vor einem Angriff durch Nazis.

Drei Eisenbahnzüge mit radikalen Nationalisten aus der Westukraine seien auf dem Weg auf die Krim, andere Rechtsextremisten bereits hier, hieß es. Deshalb überwachten Selbstverteidigungsmilizen die Bahnhöfe und errichteten an allen wichtigen Straßen Checkpoints, an denen Fahrzeuge gestoppt und durchsucht wurden.

Es ist keine große Überraschung, dass die Nazis niemals kamen. Aber in der mehrheitlich russischstämmigen Bevölkerung der Krim zeigte die Propaganda die erwünschte Wirkung. Nicht zuletzt ihr dürfte es zu verdanken sein, dass sich bei einem eilig angesetzten Referendum mehr als 95 Prozent der Wahlberechtigten für eine Wiedervereinigung mit Russland aussprachen (die maskierten Bewaffneten vor den Wahllokalen waren allerdings auch nicht ganz unbeteiligt).

Um zu verstehen, welche Wirkmacht die Behauptung einer faschistischen Bedrohung hat, muss man aber noch weiter in der Geschichte zurückgehen – bis zum Zweiten Weltkrieg, der in Russland „Großer Vaterländischer Krieg“ genannt wird. Der unter unfassbaren Opfern errungene Sieg über Nazi-Deutschland ist so etwas wie der Gründungsmythos der modernen russischen Nation.

Ein Kollaborateur als Volksheld

In der Ukraine ist das diffiziler. Vor allem im Westen des Landes wird von vielen Leuten immer noch ein Nazi-Kollaborateur als Volksheld verehrt: Stepan Bandera, ein glühender Nationalist, der sich nach Kriegsbeginn auf die Seite der deutschen Besatzer geschlagen hatte. Bandera führte eine Organisation namens OUN-B an (einer Abspaltung der OUN, die übrigens 1929 in Wien gegründet worden war), deren Angehörige für die Wehrmacht kämpften, Freiwillige für die Waffen-SS stellten, sich als Hilfspolizisten der Nazis betätigten und auch an Pogromen beteiligt waren.

Als die OUN-B 1941 in der westukrainischen Stadt Lviv (Lemberg) einen unabhängigen Staat ausrief, wurde es den Deutschen zuviel. Sie sperrten Bandera ins KZ Sachsenhausen – allerdings als „Ehrenhäftling“ mit möblierter Zwei-Zimmer-Zelle. Ende 1944 wurde er freigelassen und sollte für die Nazis den Widerstand gegen die vorrückenden Sowjet-Truppen in der Ukraine organisieren. Dazu kam es aber nicht mehr. Bandera wurde 1959 in München, wo er sich nach dem Krieg niedergelassen hatte, vom KGB ermordet.

Womit wir wieder 21. Jahrhundert wären: 2010 verlieh die damals von dem europafreundlichen Präsidenten Viktor Juschtschenko geführte ukrainische Regierung den Ehrentitel „Held der Ukraine“ postum an Bandera. Und vier Jahre später waren am Euromaidan-Aufstand unter vielen anderen auch Ultranationalisten beteiligt, die sich auf Bandera berufen – etwa die Parteien „Swoboda“ und „Prawy Sektor“ (Rechter Sektor), die bis heute auch als paramilitärische Gruppe organisiert ist.

Recht machtlos

Heute spielt „Swoboda“ allerdings nur eine marginale politische Rolle. Die Partei war zwar 2014 an einer Übergangsregierung beteiligt, blieb bei den Parlamentswahlen 2019 aber bei mageren 2,4 Prozent und schaffte ihr einziges Mandat nur deshalb, weil sie als Teil eines Wahlbündnisses antrat.

„Prawy Sektor“ scheiterte 2019 krachend an der Fünf-Prozent-Hürde. Nach dem Kriegsausbruch in der Ostukraine gründete die Partei aber auch eine Freiwilligenmiliz, die das erklärte Ziel hat, pro-russische Separatisten im Osten des Landes zu bekämpfen. Ihre Anhänger sind auch in anderen rechtsextremen Milizen wie dem Bataillon Asow tätig, die den ukrainischen Sicherheitskräften unterstellt wurden.

Das ist alles unangenehm. Und die Ukraine hat zweifellos zahllose politische Probleme. Von einem „faschistischen Regime“ in Kiew, das Putin herbeideliriert, kann jedoch nicht einmal ansatzweise die Rede sein.

Der Kreml hat aber keinen Genierer, das zu tun – und damit die Erinnerung an den „Großen Vaterländischen Krieg“ zu missbrauchen, um den Überfall auf die Ukraine zu rechtfertigen.