MARTIN STAUDINGER —
02.03.2022
Wenn die Angst umzugehen beginnt, ist ihr erstes Ziel oft die Apothekenbudel: Das hat sich Anfang der Woche wieder einmal gezeigt. Seit ein paar Tagen melden Österreichs Pharmazien Engpässe bei Kaliumjodid-Tabletten. Grund ist offenbar die Sorge, dass der Ukraine-Krieg zu einer Auseinandersetzung mit Nuklearwaffen eskaliert – immerhin hat Kreml-Chef Wladimir Putin am Wochenende kaum verklausuliert damit gedroht.
Seither ist die Angst vor dem Atomkrieg zurück, von der das halbe Leben der Boomer und zumindest die Jugend der Generation X überschattet war. Warum Jodtabletten derzeit trotzdem gefährlicher für Ihre Gesundheit sind als das Arsenal von Herrn Putin, versuche ich heute zu klären.
Vorher aber noch ein Blick auf die aktuelle Lage in der Ukraine:
- In Kyiv steht ein Sturmangriff der russischen Armee anscheinend unmittelbar bevor. Wenige als 30 Kilometer nördlich der Hauptstadt wartet ein mittlerweile mehr als 60 Kilometer langer Konvoi aus gepanzerten Fahrzeugen auf den Einsatzbefehl. Ziel dürfte es aber nicht sein, Kyiv Straße für Straße zu erobern, sondern ins Zentrum vorzustoßen und dort sowohl praktisch als auch symbolisch die Macht zu übernehmen.
- Die russischen Truppen sind gestern kaum vorangekommen, gehen aber immer brutaler vor. Auch in zivilen Gebieten kommen – wie gestern schon berichtet – Clusterbomben und Raketenwerfer zum Einsatz. Zuletzt konzentrierten sich Angriffe auf Kommunikationsanlagen, etwa den Fernsehturm von Kyiv.
- Die großen Städte im Osten des Landes sind bereits eingekreist, die ukrainischen Streitkräften werden Richtung Dnepr zurückgedrängt.
- Inzwischen beteiligen sich auch Truppen der Republik Belarus an der Invasion. Ein Foto zeigt Diktator Alexander Lukaschenko vor einer Landkarte, auf der sich anzudeuten scheint, dass die Angreifer auch größere Teile der Westukraine erobern wollen.
Wie Stanislaw Petrow den Atomkrieg verhinderte
Erinnern Sie sich noch? In den 1980-er Jahren lauerten in den Arsenalen des Schreckens der Atommächte rund 70.000 Nuklearsprengköpfe. Einmal schrammte die Welt nur am Armageddon vorbei, weil sich 1983 ein russischer Offizier namens Stanislaw Petrow über Alarmsysteme hinwegsetzte, die fälschlicherweise einen amerikanischen Raketenangriff gemeldet hatte.
Zeitweise war es in den meisten Bundesländern Österreichs sogar beim Bau von Privathäusern Pflicht, Schutzräume einzurichten. Heute liegen dort meistens die Erdäpfel oder der Wein, temperaturmäßig ist es hinter den dicken Stahlbetonmauern ja ideal.
Mit dem Kalten Krieg endet auch die Angst vor einer atomaren Auseinandersetzung. Und es wurde massiv abgerüstet. 13.080 Nuklearwaffen gibt es derzeit noch, 6.255 in Russland, 5.550 in den USA, der Rest auf sieben weitere Länder verteilt. 4.100 gelten als einsatzfähig, jeweils 1.800 halten Washington und Moskau in Alarmbereitschaft. Das reicht aber immer noch, um die Menschheit mehrfach auszulöschen.
Das hat Wladimir Putin der Welt am vergangenen Wochenende wieder einmal in Erinnerung gerufen, als er öffentlichkeitswirksam „erhöhte Alarmbereitschaft“ für die „strategischen Abschreckungswaffen“ Russlands anordnete.
Diese Drohung ist, wie der Militärstratege Markus Reisner, Oberst der Theresianischen Militärakademie im aktuellen FALTER ausführt, im Zusammenhang mit einer Reihe von Drohgebärden beider Seiten zu sehen. Reisner: „Es begann damit, dass die USA am 10. Februar vier B52-Landstreckenbomber nach Großbritannien verlegten und in der Folge über Europa kreisen ließen. Russland antwortete darauf mit einer Übung, bei der eine Interkontinentalrakete gestartet wurde. Dass Putin seine strategischen Abschreckungskräfte in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt, ist vorerst nur ein kleiner und symbolischer Eskalationsschritt. Er signalisiert damit dem Westen: Mischt euch bloß nicht in diesen Konflikt ein.“
Putins rätselhafter Befehl
Die konkrete Wortwahl Putins lässt Militäranalysten allerdings rätseln: „Ich befehle dem Verteidigungsminister und dem Generalstabschef, die Abschreckungskräfte der russischen Armee in einen speziellen Gefechtsdienstmodus zu versetzen“, sagte der Kremlchef. Das sei kein bekannter Begriff aus der russischen Militärdoktrin, sagte ein nicht näher genannter Beamter des US-Verteidigungsministeriums der Fachwebsite military.com: „Wir sind noch dabei, ihn zu analysieren und zu überprüfen, um zu verstehen, was er exakt bedeutet.“
Allerdings seien den Worten bislang keine Taten gefolgt. Sprich: Die mobilen Raketenabschussrampen werden nicht aus den Militärbasen in Marsch gesetzt und im Land versteckt, es laufen nicht mehr Atom-U-Boote aus und es steigen nicht mehr Bomber auf als sonst. Solange sich das nicht ändert, bleibt der mysteriöse Befehl Putins bloß Rhetorik.
„Nein“, sagte US-Präsident Joe Biden am Montag trocken auf die Journalistenfrage, ob man Angst vor einem Atomkrieg haben müsse. Die US-Armee hat ihre Alarmstufe vorerst jedenfalls nicht hinaufgesetzt – auch ein klares Signal an Russland.
Diese Coolness rührt wohl auch daher, dass Putin erst vor zwei Jahren „grundlegende Prinzipien“ abgesegnet hat, die aus Sicht Russlands den Einsatz von Nuklearwaffen legitimieren würden.
- Der Abschuss von ballistischen Raketen auf das Territorium Russlands oder seiner Alliierten
- Der Einsatz atomarer Waffen durch einen Gegner
- Ein Angriff auf russische Atomwaffenanlagen (also Raketensilos etc.)
- Ein Angriff, der die Existenz des Staates Russland bedroht
Nichts davon ist bislang eingetreten und bei den Kriterien 1, 2 und 4 ist es unvorstellbar, dass sie in der aktuellen Situation schlagen werden könnten.
Allerdings: Es gibt eine Ausnahme – Nummer 3. Was, wenn beispielsweise Hacker (vielleicht sogar in bester Absicht) in das Computersystem einer russischen Atomwaffenanlage einbrechen? Wenn das von Russland als Cyberangriff des Westens missverstanden wird? Und wenn es dann keinen Stanislaw Petrow gibt, der die Lage richtig einschätzt?
Klein, aber unfein
Auch wenn das jetzt seltsam beschönigend klingt (was es nicht soll): Aber selbst in diesem Fall gibt es Eskalationsstufen vor dem totalen Atomkrieg. Etwa den Einsatz kleiner, taktischer Atomsprengköpfe, die einer deutlich geringe Sprengkraft als größere strategische Nuklearwaffen haben.
Putins Ziel sei die Psyche der Menschen, sagt Marina Henke, Professorin für Internationale Beziehungen an der Hertie School Berlin, in einem Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland: „Er könnte eine Nuklearbombe über der Ostsee oder dem Schwarzen Meer zünden. Dadurch würde zwar die Umwelt in großem Maße verseucht werden, aber es werden keine Menschen direkt zu Schaden kommen. Putin würde damit trotzdem das klare Signal an den Westen senden, dass er bereit ist, bis zum Äußersten zu gehen.“
Sehr wahrscheinlich sei das aber nicht, da sind sich die meisten Experten einig. Putins Drohung damit zielt wohl vor allem darauf ab, die Öffentlichkeit im Westen zu verunsichern.
Jodbremse
Aber nicht bloß deshalb sollte man davon absehen, jetzt Kaliumjodidtabletten zu schlucken. Sie wirken nur gegen radioaktives Jod, das beispielsweise bei der Havarie eines Atomkraftwerks radioaktives Jod freigesetzt wird – es kann sich nicht in der Schilddrüse anreichern und Krebs verursachen, wenn dort genügend nicht-radioaktives Jod gebunkert ist.
Wer seine Schilddrüse ohne Not mit zusätzlichem Jod traktiert, riskiert aber gesundheitliche Probleme. Und gegen die Strahlung, die bei einem allfälligen Atomschlag freigesetzt wird, hilft Kaliumjodid ohnehin nichts.