Wie verrückt ist Wladimir Putin?

Der Kreml-Chef war immer als eiskalt kalkulierender Realist bekannt – jetzt macht er einen irrationalen Eindruck. Was ist passiert?


MARTIN STAUDINGER

01.03.2022

Ist das noch normal? Wladimir Putin bei einem Treffen mit dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz, wenige Tage vor dem russischen Angriff auf die Ukraine Foto: Sputnik

Wie verrückt ist Wladimir Putin? Unseriöse Frage, wird man jetzt vielleicht sagen: Ferndiagnosen bringen nichts, und die Versuchung, einen Aggressor als krank im Hirn hinzustellen, ist nicht nur verführerisch, sondern auch potenziell irreführend für seine Einschätzung.

Aber die Frage stellt sich im Fall von Wladimir Putin ja tatsächlich, und das auf zwei Ebenen: Wenn „verrückt“ bedeutet, dass er unerhörte, empörende Handlungen setzt, dann lautet die Antwort eindeutig: „Ja, einigermaßen“. Wenn sich das Wort auf einen psychopathologischen Zustand bezieht … dann kann man zumindest nicht von vorneherein einfach „Aber woher denn?“ sagen.

Dabei war Putin die längste Zeit über jeden Verdacht erhaben, gaga zu sein. Macho und Machtmensch – ja. Dabei aber immer Rationalist mit eiskaltem Kalkül. Jetzt aber droht er knapp nach Beginn eines Krieges, den er selbst angezettelt hat, der Welt mit Atomwaffen. Da liegt die Befürchtung nahe, dass etwas mit ihm passiert ist.

Was, darüber kann man nur spekulieren (später mehr dazu). Auf dem Weg dahin lassen sich aber (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) einige Stationen identifizieren. Nachdem Putin im Jahr 2000 an die Macht gekommen war, signalisierte er dem Westen durchaus die Bereitschaft zur Annäherung – schnell aber auch Ärger über den Beitritt von ehemaligen Sowjet-Republiken und Satellitenstaaten zur Nato. Ob diesbezüglich zwischen Russland, den USA und Europa ein No-Go vereinbart war, ist immer noch Gegenstand von Debatten. Einen klugen Artikel dazu gibt es in der deutschen „Zeit“.

2007 hielt Putin dann eine Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz, die nachträglich als Wendepunkt erscheint: Er machte seinem Groll über die Dominanz des Westens sehr deutlich Luft (hier die Rede zum Nachlesen – ungefähr in der Mitte geht er auf die Nato ein).

2011 dürfte er sich in seinen Befürchtungen bestätigt gefühlt haben: Russland hatte sich unter dem damaligen Präsidenten Dmitri Medwedew überreden lassen, kein Veto gegen eine UN-Sicherheitsresolution zu erheben, die einen Militäreinsatz in Libyen erlaubte – und musste mitansehen, wie der Westen dieses Mandat exzessiv auslegte: Europäische Nato-Staaten sorgten nicht nur dafür, dass Diktator Muammar al-Gaddafi beim militärischen Vorgehen gegen seine Opposition gestoppt wurde, sie schalteten ihn gleich ganz aus. Und das war überhaupt nicht im Sinne Putins.

Der Politologe Ivan Krastev, der 2015 zu einem Abendessen bei Putin geladen war, erlebt ihn dabei so: Putin ist nicht paranoid im klassischen Sinne. Aber in seinem Misstrauen und seinen Ressentiments gegenüber dem Westen ist er repräsentativ für die derzeitige Stimmungslage der meisten Russen. Wenn es Straßenproteste gibt, fragt er nicht nach dem Grund dafür, sondern: Wer steckt dahinter? Und er ist offenbar sehr davon überzeugt, dass die Unruhen überall rund um Russland von den Amerikanern organisiert werden. Er beginnt immer mehr, an seine eigene Propaganda zu glauben“ (aus einem Interview im profil).

Was man gleichzeitig weiß: Dass Putin im Zerfall der Sowjetunion die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ sieht. Das damit verbundene Gefühl des Bedeutungsverlusts mag eine persönliche Komponente haben, eine staatsmännische ist aber auch nicht zu ignorieren: Das erklärte Vorhaben des neuen Kremlchefs war es, das Selbstbewusstsein Russlands wieder aufzubauen, das nach dem Ende des Kommunismus in Chaos und Armut versunken war. Er wollte sozusagen Russia great again machen. Aber nicht, wie man es im Europa gerne sah, bloß als Gashändler und Tankstelle für den Westen, sondern als Militärmacht – anders, so hatte er es als Geheimdienstler im Kalten Krieg gelernt, wird man nicht ernstgenommen.

Auch das noch nicht verrückt. Inzwischen spekuliert Putin-Kenner Krastev aber in einem Interview mit der Presse, die Pandemie sei nicht spurlos am Kreml-Chef vorbeigegangen, er habe sich in Selbstisolation radikalisiert: „Mehr als ein Jahr lang traf der russische Präsident nur eine sehr begrenzte Anzahl von Menschen. All diese Apparatschiks haben ungefähr das gleiche Alter. Dieser Krieg ist nicht nur Putins Krieg, sondern der Krieg einer Generation ehemaliger KGB-Offiziere, die sich nie verziehen haben, zwischen 1989 und 1991 nicht genug getan zu haben, um die Sowjetunion zu retten.“ Man könnte auch sagen: Putin hat ein machtpolitisch-mentales Long Covid entwickelt.

Ob er das Verhalten des Kreml-Chefs für rational halte, wird Krastev gefragt. Antwort: „Alles ist rational in einem bestimmten Kontext. Und sein Kontext ist die Revanche. Putin glaubt, dass die Geschichte und der Westen Russland schlecht behandelt haben. Und er will das nun rückgängig machen.“

Verrückt trifft es also nicht ganz. Rational im umfassenden Sinn aber ebensowenig. Das sagen auch Leute, die nahe genug an der russischen Regierung sind, um wahrnehmen zu können, dass sich im Verhalten des Präsidenten etwas geändert hat. Sie vermuten, dass es Putin inzwischen um seinen Eintrag in den Geschichtsbüchern geht. Und befürchten, dass er dabei abgehoben hat.

Dafür spricht die Inszenierung seiner Auftritte als Kriegspräsident: Die überlangen Tische, an denen er Staatsgäste empfängt; die gigantische Säulenhalle, in der er seine Minister, Geheimdienstchefs und Generäle herunterputzt – all das erinnert fast ein bisschen an die Böslinge in diversen James-Bond-Filmen. Und die Tatsache, dass Staatsmedien bereits einen Jubelartikel über die Rückeroberung der Ukraine vorproduziert und irrtümlich veröffentlicht haben, lässt befürchten, dass sich das Wahnhafte nicht auf ihn beschränkt.

Es kann zur Strategie gehören, verrückter wirken zu wollen, als man ist. Darauf verlassen kann man sich im Fall Russlands allerdings nicht.

Die aktuelle Lage in der Ukraine:

  • Gespräche zwischen der Ukraine und Russland, die an der Grenze zu Belarus geführt wurden, verliefen vorerst ohne Ergebnis.
  • Kiew, das wichtigste Kriegsziel der Russen, ist noch immer nicht gefallen. Im Norden und Süden der Stadt bereiten sich russische Verbände offenbar auf einen Großangriff vor.
  • Der österreichische Militärexperte Markus Reisner, Oberst der Theresianischen Militärakademie, sieht Anzeichen für eine zunehmend brutale Kriegsführung der russischen Streitkräfte – inzwischen kommen (verbotene) Clusterbomben und Raketenwerfer zum Einsatz, auch gegen zivile Ziele. Daran, dass Putin seine Drohung mit Atomwaffen in die Tat umsetzt, zweifelt Reisner aber. Mehr darüber gibt‘ ab heute abend im FALTER.