Russland droht, Kiew hält stand, die Ukraine verhandelt

Knapp eine Woche nach Beginn der Invasion läuft vieles nicht so, wie Wladimir Putin es erwartet hat.


MARTIN STAUDINGER

28.02.2022

Aus fast allen Teilen der Ukraine wurden Angriffe oder Kampfhandlungen gemeldet – hier ein in Brand geschossenes, offenbar russisches Panzerfahrzeug © Thomas van Linge/Twitter

Eine Drohung

Kreml-Chef Wladimir Putin hat seine „strategischen Abschreckungskräfte“ in „Alarmbereitschaft“ versetzt. Diese klare Drohung mit Nuklearwaffen bezieht sich allerdings nicht auf den aktuellen Krieg, sondern richtet sich gegen die USA und Europa – und dort vor allem an die Öffentlichkeit, die hören soll, dass ihre Regierungen den globalen Atomkrieg riskieren, wenn sie sich auf die Seite der Ukraine stellen: Wir haben es also hoffentlich bloß mit dem Versuch zu tun, die Politik über die Nervosität der Bevölkerung unter Druck zu setzen.

Regierungen, Diplomaten und Militärs hören allerdings nicht nur das, was Putin gesagt hat („Abschreckung“), sondern auch das, was er (noch) nicht wörtlich gesagt hat: „Atomwaffen“ nämlich. Was den Eskalationsschritt etwas kleiner macht, als er auf die Öffentlichkeit wirken soll (aber nicht weniger monströs).

Ein interessantes Interview zur Frage, was es heißen könnte, wenn tatsächlich Nuklearwaffen eingesetzt werden, finden Sie hier.

Eine Fehlkalkulation

Die Drohung kann man durchaus als Zeichen der Schwäche interpretieren. Immer mehr wird klar, dass sich Russland hinsichtlich der internationalen Reaktionen auf den Einmarsch verkalkuliert hat: Die EU, die USA, Großbritannien, Kanada und Japan schließen jetzt tatsächlich wichtige russische Banken aus dem Zahlungssystem SWIFT aus; die Zentralbank des Landes wird ebenfalls sanktioniert. In Europa ist der größte Teil des Luftraums für russische Flugzeuge blockiert, in der Türkei der Bosporus für Kriegsschiffe. Kasachstan, einer der engsten Verbündeten des Kremls, weigert sich, Truppen für die Invasion beizustellen. Und die Militäraktion selbst verläuft weniger problemlos als erwartet.

Eine Überraschung

Auch wenn wir in den sozialen Netzwerken vorwiegend aus ukrainischen Quellen versorgt werden, die naturgemäß daran interessiert sind, die Angreifer nicht gut dastehen zu lassen: Zahlreiche Videos deuten darauf hin, dass die Russen schwere Verluste hinnehmen müssen. Nicht nur das – die vorrückenden Verbände haben offenbar auch logistische Probleme. Dokumentiert ist etwa, dass manchen einfach auf offener Strecke der Sprit ausgeht: Sei es aufgrund von Fehlplanung; sei es, weil die Ukrainer Nachschubkonvois überfallen. Mit der Einnahme großer Städten tun sich die Invasoren schwer oder machen gleich einen Bogen um sie herum.

Ein Missverständnis

Wobei: Ihre Eroberung ist in dieser Phase der Intervention nicht das vordringliche Ziel, wie der Militärfachmann Franz-Josef Gady ausführt. Da geht es vielmehr darum, möglichst rasch Terrain zu machen und ukrainische Truppen im Osten vom Rest des Landes abzuschneiden. Und das gelingt den Russen offenbar gut. Die Ukrainer können nur versuchen, möglichst viele ihrer Leute geordnet über den Dnepr zu bringen und dann die Brücken zu sprengen, sagt Oberst Markus Reisner, Leiter der Forschungsabteilung an der Militärakademie Wiener Neustadt. Der Fluss bietet eine natürliche Verteidigungslinie. Möglich, dass er irgendwann zur Grenze zwischen einer ukrainischen und einer russisch dominierten Ukraine wird.

Ein Ziel

Am Dnepr liegt auch Kiew: Das wichtigste Kriegsziel der Russen ist es, die Hauptstadt zu nehmen; jenes der Ukrainer, sie zu halten. In der Nacht rückten die Angreifer immer näher heran, ein kilometerlanger, kampfbereiter Konvoi wurde an den Außenbezirken gesichtet. Greift er an, droht eine brutale Abwehrschlacht: Die Bevölkerung scheint dem Aufruf der Regierung gefolgt zu sein, massenhaft Molotowcocktails zu fabrizieren – im Häuserkampf eine äußerst effiziente Waffe gegen gepanzerte Fahrzeuge und ihre Besatzungen.

Eine gute Nachricht

Und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj scheint fest entschlossen zu sein, nicht zu kapitulieren. Er hat gestern Abend aber Verhandlungen ohne Vorbedingung mit Russland zugestimmt. Sie sollen heute am Fluss Pripyat an der Grenze zu Belarus stattfinden – ganz in der Nähe des Atomkraftwerks Tschernobyl. Auch dort wurde übrigens gekämpft, der „Sarkophag“, der die strahlenden Reste des havarierten Reaktors schützt, blieb aber offenbar unbeschädigt: Zumindest eine gute Nachricht unter vielen schlechten.