Kalaschnikow und Twitter

Einst ließen die Taliban das Internet in Afghanistan sperren. Heute nutzen sie soziale Medien als ihre Waffe. Nur: Ihre Gegner tun das auch.

Julia Ebner
vom 30.08.2021

Foto: Suhrkamp Verlag

1981: Der internationale Dschihad hatte seine Anfänge in Afghanistan. Von überall her stürmten Zehntausende selbsterklärte Dschihadisten in das Land, um die Mudschahedin in ihrem Kampf gegen sowjetische Invasoren und säkulare Einflüsse zu unterstützen. Zwanzig Jahre später, 2001. Nach 9/11 wurde Afghanistan wieder zum Mittelpunkt des globalen Dschihad. Unter dem damaligen Präsidenten George W. Bush stürzten die USA die Taliban in Afghanistan. Wiederum zwanzig Jahre später, 2021. Die Rückkehr der Taliban in Kabul eröffnet dschihadistischen Gruppen eine neue Basis zur Mobilisierung. Ihre Verwendung der sozialen Netzwerke ist raffinierter denn je.

Jahrelanges Training für die Afghanische Nationalarmee und knapp zwei Billionen US-Dollar für den Staatsaufbau halfen am Ende nicht, das Land vor einer erneuten islamistischen Übernahme zu schützen. Viele der 300,000 afghanischen Soldaten gaben kampflos gegen die 80,000 Taliban-Kämpfer auf. Die Niederlage erinnert an die IS-Übernahme von Mosul im Jahr 2014, bei der etwa 1500 IS-Kämpfer die Stadt beinahe widerstandslos eroberten.

Die Taliban sind nicht mehr dieselben wie vor dreißig, vierzig Jahren. In den 1990er-Jahren sperrten die Taliban das Internet. Sie verwendeten ausgedruckte Nachtbriefe (sogenannte shabnamah), die persönlich in Dörfern verteilt wurden, um neue Vorschriften sowie Konsequenzen bei Verstößen zu kommunizieren. Heute dient ihnen das Internet für ihre ausgefeilte Propaganda zur Machtkonsolidierung, Mobilisierung der Massen und Kontrolle der Bevölkerung.

Die Taliban-Kämpfer hatten beim Umsturz Kabuls Regierung zumindest gleich viele Kameras und Smartphones wie Kalaschnikows als Waffen. Zusätzlich nutzten sie die in Afghanistan weit verbreiteten Smartphone-Apps wie Whatsapp, Telegram, Snapchat und TikTok, um mit ihren Sympathisanten zu kommunizieren. Obwohl der Zugang zu Breitbandinternet bei nur etwa zehn Prozent liegt in Afghanistan, hat die Smartphone-Verbreitung in den letzten fünfzehn Jahren stark zugenommen. Während laut Weltbank-Statistiken nur circa eine Million Afghanen im Jahr 2005 ein Mobiltelefon hatten, waren es 2017 bereits knapp 24 Millionen.

Die drei größten Twitter-Accounts der Taliban hatten zum Zeitpunkt der Übernahme kombiniert beinahe eine Million Follower. Führende Taliban-Mitglieder verwenden die sozialen Netzwerke etwa, um ihre Macht zu zementieren und ihr Image zu verbessern. Ihre Posts können als Versuch gelesen werden, sich progressiver und weniger radikal darzustellen als ursprüngliche Taliban-Versionen. Unter dem Titel „zurück in der Schule in einem neuen Afghanistan“ postete der Taliban-Sprecher Dr M Naeem an seine 240,000 Follower ein Video, das Mädchen am Weg in die Schule zeigt. In einem anderen Video versichert ein Taliban-Offizier weiblichen Angestellten im Gesundheitswesen, dass sie ihre Stellen behalten können.

Doch abseits der Propaganda deutet alles darauf hin, dass die Unterdrückung von Frauen, religiösen Minderheiten und Andersdenkenden nicht der Geschichte angehört. Der UNO liegen aktuell glaubwürdige Berichte über willkürliche Hinrichtungen und schwerwiegende Menschenrechtseinschränkungen seit der Machtübernahme der Taliban vor. Nutzer sozialer Netzwerke in ganz Afghanistan löschen ihre Online-Profile löschen, da sie fürchten, sie könnten mit westlichen Kontakten assoziiert werden.

Die Propaganda der Taliban richtet sich in vielen englischsprachigen Kanälen auch eindeutig an ein globales Publikum. Es werden etwa Fotos und Videos von glücklich aussehenden Bürgerinnen und Bürgern geteilt und Statements von Leitern religiöser Minderheiten, die versichern, dass es ihnen gut geht. Das vermittelte Bild einer friedlichen und stabilen Lage in Afghanistan steht jedoch in starkem Kontrast zu den international geteilten Bildern und Videos, die Chaos am Flughafen von Kabul und angeschossene Protestierende zeigen.

Da die Taliban in den USA nicht offiziell als Terrorgruppe gelten, entschieden sich die großen Tech-Plattformen für unterschiedliche Strategien im Umgang mit deren Propaganda. Erst vor einigen Tagen wurden Accounts der islamistischen Bewegung auf Facebook, Instagram, TikTok und Youtube gesperrt. Twitter hingegen erlaubte Taliban-Accounts weiterhin mit der Argumentation, sie würden nur diejenigen Tweets löschen, die gegen ihre Richtlinien etwa zur Glorifizierung von Gewalt verstoßen.

Geschickt manövrieren sich die Taliban darum herum. Man sieht Parallelen zur visuell ansprechenden Propaganda des IS, der viele radikale Bewegungen weltweit in ihren Kommunikationskampagnen inspiriert hat. Ein Bild, das beispielsweise online zirkulierte, zeigte Taliban-Kämpfer, die unter blau-rosa Himmel in Kabul mit Camouflage-Kleidung und Maschinengewehren posieren. Im Text darunter heißt es auf Paschtunisch und Englisch: „In einer Atmosphäre der Freiheit“.

Was auf Kanälen wie Whatsapp und Telegram passiert, entzieht sich aufgrund der Ende-zu-Ende-Verschlüsselung ohnehin der Aufsicht der Plattformen.

Zweifellos ist viel falsch gelaufen in Afghanistan. Doch wir müssen uns eingestehen, dass militärische Interventionen gegen den Dschihadismus längerfristig machtlos, wenn nicht sogar kontraproduktiv sind. Die Ideologien leben weiter, werden teilweise sogar angetrieben durch neu entstehende Opferrollen im Krieg mit dem Westen, was zu neuen Wellen von Terroranschlägen führen kann. Meine Undercover-Konversationen mit Dschihadisten zeigten, dass militärische Eingriffe, Krieg und Menschenrechtsverletzungen wesentliche Faktoren in der gewaltvollen Radikalisierung waren. Weder Bomben noch Drohnen haben daher eine Chance im Kampf gegen den Islamismus.

Strategische Kommunikationskampagnen könnten sich als wirksamer erweisen. So stellten sich Zivilisten in den Straßen und auf den Dächern der Taliban mit Gesängen von “Allahu Akbar“ der neuen Regierung. Der Slogan, der normalerweise von gewaltvollen Dschihadisten als Schlachtruf verwendet wird, wurde bald von Anti-Taliban Accounts in der ganzen Welt aufgegriffen. Das führte zu Wut und Verwirrung aufseiten der Taliban, die mit empörten Statements reagierten. Auch der Hashtag #DoNotChangeNationalFlag ging auf TikTok viral, um gegen die Verwendung der Taliban-Flagge zu protestieren. Das ist ein guter Anfang, doch wir brauchen deutlich mehr intelligente Kampagnen gegen die Taliban – online wie offline.


Julia Ebner ist Publizistin, Wissenschafterin und Politikberaterin. Für ihre Bücher Wut und Radikalisierungsmaschinen hatte sich Ebner mehrere Monate undercover unter Rechtsradikale, darunter Gruppen der Identitären Bewegung und der English Defence League, wie auch radikale Islamisten, Antifeministen und Verschwörungstheoretiker begeben. Sie arbeitet an ihrem Doktorat zum Thema Online-Extremismus an der Oxford University und schreibt neben dem FALTER regelmäßig für den Guardian und den Independent.

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