Bin ich kein Experte oder bin ich kein Experte?

Harry Bergmann über den neuen Antisemitismus-Bericht und warum Antisemiten nicht den Umweg über Israel nehmen müssten, wo Niederösterreich doch so nahe liegt.

Harry Bergmann
am 17.05.2023

Abonnieren Sie Harry Bergmanns Loge 17:

Wenn Antisemitismus sich als Antizionismus verkleidet | Theodor Herzl-Stiege, Wien

Unlängst dachte ich, was ich immer denke, wenn ich gerade eine Kolumne fertiggeschrieben habe: „Es reicht! Ich gebe auf! Ich habe eigentlich nichts Fakten-Basierendes oder Hintergrund-Überraschendes oder Erkenntnis-Öffnendes oder In-Bewegung-Setzendes oder Zusammenhang-Erklärendes oder Geheimnis-Durchleuchtendes zu sagen, also warum um Himmels willen musste ich schon wieder etwas schreiben und damit anderen Menschen die Zeit und dem lieben Gott den Tag stehlen?“ Jeder Publizist oder Journalist oder Kolumnist oder Feuilletonist oder Glossist oder Gescheite-Worte-zu-Papier-Bringist ist ein Experte für Irgendetwas.

Ich bin ein Experte für nix. Ein Nix-Experte für alles.

Aber vor ein paar Tagen habe ich etwas gelesen und ich muss Ihnen sagen, dass mir ein Stein vom Herzen gefallen ist, als ich es gelesen habe. Ich bin nämlich doch ein Experte.

Ich habe natürlich Glück, denn man muss gar nichts lernen, gar nichts wissen, um so ein Experte zu sein, wie ich es einer bin. Man ist es oder ist es nicht. Ohne Zutun. Von Geburt an.

Eines ist wirklich interessant: obwohl es, wie gesagt, gar nicht so schwer ist, so ein Experte zu werden, gibt es gar nicht so viele davon. Heute. Früher gab es wesentlich mehr, aber das ist lange her.

So etwa neunzig Jahre. Da gab es alleine in Wien gut und gern zweihunderttausend solcher Experten. Habe ich jetzt wirklich „gut und gern“ gesagt? Wie komme ich nur auf „gern“? Diese Experten-Kollegen von mir hatte man damals, vor neunzig Jahren, ganz und gar nicht gern. Heute ist es etwas besser. Etwas.

So ein Experte bin ich. Ein Experte im Jude sein. Ein Experte im Jude in Österreich sein.

Ich weiß natürlich nicht erst seit heute, dass ich Jude bin. Und ich weiß auch nicht erst seit heute, was andere von mir halten, weil ich Jude bin, schließlich bin ich ja ein Experte darin.

Jetzt habe ich es aber schwarz auf weiß, denn der neue Antisemitismus-Bericht des Parlaments ist da. Wollen Sie vorab wissen, wie es dem Antisemitismus in Österreich, dem immer wieder gern zur Hand genommenen Antisemitismus, geht?

Danke der Nachfrage, es geht im gut. Er blüht und gedeiht.

Diesen Antisemitismus-Bericht kann man so oder so lesen. Pessimistisch oder optimistisch. Ich habe mich diesmal für die optimistische Variante entschieden. Laut der bin ich an fast allem, aber eben nicht an allem schuld.

Sie kennen sicher den Witz mit den Juden und den Radfahrern. Ich geniere mich ja fast es zu tun, aber ich erzähle ihn ganz schnell. Vielleicht gibt es ja den einen oder die andere, der oder die ihn nicht kennt und ich wüsste nicht, wie man die Quintessenz des Berichts mit weniger Worten beschreiben könnte.

Treffen sich zwei. Sagt der eine: „Die Juden und die Radfahrer sind an allem schuld!“ Sagt der andere: „Wieso die Radfahrer?“ Darauf der eine: „Wieso die Juden?“

Ein Drittel, e-i-n D-r-i-t-t-e-l, in Österreich findet, dass Juden einen Vorteil aus der Nazi-Zeit zu ziehen versuchen. Ich könnte jetzt etwas dazu sagen, aber was immer ich sagen könnte, würde schlechter sein als das, was meine Lieblings-schöne-Worte-zu-Papier-Bringerin Julya Rabinowich dazu schon gesagt hat: „Der Vorteil hieß Mord, glaube ich. Der Nachteil der anderen hieß Arisierung.“

Mein ganz persönlicher Vorteil, den ich aus der Nazi-Zeit gezogen habe, ist ein familiärer. Genauer gesagt, eine maximal schlanke Familie. Wer braucht schon Großeltern – nämlich gleich alle vier – oder Tanten oder Onkeln? Das sollte ich aber laut dem Bericht gar nicht laut sagen, denn wieder ein Drittel der Befragten stimmt dem Satz zu: „Ich bin dagegen, dass man immer wieder die Tatsache aufwärmt, dass im zweiten Weltkrieg Juden umgekommen sind.“ Umgekommen? Klingt wie ein Unfall. Ermordet! Vergast!

Warum in die ferne Vergangenheit schweifen, liegt das aktuelle Malheur doch so nah. Wir alle fragen uns, wie es zu dieser gewaltigen Teuerungswelle kommen konnte, wieso die Regierung nichts oder das akkurat Falsche dagegen unternommen hat, warum die Lebensmittel-Händler so unnachgiebig sind, wohin das Geld verschwindet, das man uns mehr und mehr aus der Tasche zieht. Geld verschwindet ja nicht einfach, es hat nur plötzlich ein anderer.

Falsch, falsch, ganz falsch! Mehr als ein Drittel kennt die Antwort: „Hinter den aktuellen Preissteigerungen stehen oft jüdische Eliten in internationalen Konzernen.“ So, dann hätten wir das auch endlich geklärt. Nicht nur die Wahrheit, auch der Antisemitismus ist also eine Tochter, ein Sohn, der Zeit.

Eine Tochter, ein Sohn, des Ortes ist er sowieso. „Wenn es den Staat Israel nicht mehr gibt, dann herrscht Frieden im Nahen Osten.“ Antisemitismus in der salonfähigeren Form des Antizionismus und der Israelfeindlichkeit. Ich frage mich manchmal, warum viele Antisemiten den weiten Umweg über Israel nehmen müssen. Die könnten sich doch ein Beispiel am nahen Niederösterreich nehmen. Der Herr Landbauer und der Herr Waldhäusl erzählen gern, wie weit man es mit unverhohlenem, blanken Fremden- und Judenhass bringen kann.

Und wenn die beiden Herren keine Zeit finden, weil sie ja die Geschicke der Niederösterreicher und Niederösterreicherinnen lenken müssen, dann könnte die Landeshauptfrau zumindest mit Rat zur Verfügung stehen, wie man dieses wunderbare Menschenbild nicht nur akzeptieren, sondern sogar zur Staatsräson erheben kann. Wenn Sie Ihre Tour d‘Horizon aber weiter als nur nach St.Pölten tragen soll, dann empfehle ich Salzburg. Der Herr Landeshauptmann kann Ihnen das alles sicher sehr salbungsvoll erläutern.

Würden Sie das aber von mir, dem ausgewiesenen Experten in diesen Fragen, erklärt bekommen wollen, muss ich leider passen. Ich kann es mir schon seit Jahren selbst nicht erklären.

Also doch ein Experte für nix,

Ihr Harry Bergmann


Dr. Harry Bergmann, Werbedilettant (gar nicht einmal so schlecht), Kolumnisten-Dilettant (na, ja…). Hat durch das Schreiben einige Freunde verloren, aber mehr gewonnen (glaubt er zumindest). Denkt seit einiger Zeit darüber nach, ob der Flug Wien – Tel Aviv ein Hinflug oder ein Rückflug ist.

Abonnieren Sie Harry Bergmanns Loge 17:

Weitere Ausgaben:
Alle Ausgaben der Loge17 finden Sie in der Übersicht.

12 Wochen FALTER um 2,50 € pro Ausgabe
Kritischer und unabhängiger Journalismus kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit einem Abonnement!