Die Gefallenen und die Hingefallenen

Ist Niederösterreich die Durchlaufprobe für eine schwarzblaue Koalition auf Bundesebene? Die Frage stellt sich eigentlich nicht mehr, fürchtet FALTER-Kolumnist Harry Bergmann.

Harry Bergmann
am 23.03.2023

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Eindeutig hingefallen: Fritzelack 1910 | Adolf Karpellus | Gemeinfrei

Ursprünglich wollte ich dieser Kolumne den Titel „Die Hingefallenen“ geben. Hingefallen deshalb, weil jemand, der hingefallen ist, meistens wieder aufstehen kann. Wenn er oder sie es will. Beim heutigen Thema war ich mir aber plötzlich über den Willen zum Aufstehen nicht mehr ganz so sicher und ergänzte ihn um die, die sich entschieden haben, liegen zu bleiben, die Gefallenen.

Was mich persönlich betrifft, geht es nicht um Gefallen oder Hinfallen, sondern um Verfallen. Ja, ich muss gestehen, ich bin in den letzten Tagen dem Twitter-Wahn verfallen. Die Schmierenkomödie mit Doskozil habe ich noch irgendwie suchtbefreit hingekriegt, aber Niederösterreich holt – wie der Name schon sagt – das Niedere, das Triebhafte, die vermaledeite Sucht aus einem heraus. Weil ich das gerade so sage, fällt mir ein, dass eine Umbenennung von Niederösterreich auf Niederstösterreich dem polit-moralischen Pegelstand dieses Landes wohl eher entsprechen würde. Klingt doch nicht so schlecht, Herr Landbauer, oder? „Herr Vize-Landeshauptfrau von Niederstösterreich“

Aber zurück in die – schon lange vor Niederstösterreich – permanent empörte und echauffierte Twitter-Arena.

Nachdem ich in den letzten Wochen ständig mit dem Rechtsruck in Israel konfrontiert werde – „Wos is’n da los, bei Eich unten?“ An dieses „bei Eich unten“ werde ich mich in diesem Leben nicht mehr gewöhnen – twitterte ich Folgendes:

„NÖ und Israel sind in etwa gleich groß. Der augenscheinlichste Unterschied: NÖ ist rechter.“

Natürlich muss man das alles viel differenzierter sehen, aber auf Twitter wird selbst der Differenzierteste (was ich leider ohnehin nicht bin) zum Gleichhobler à la Ferdinand Raimund.

Ich wollte damit auch keineswegs sagen, dass das, was in Israel gerade passiert, zu relativieren sei. Nein, es ist demokratie-infektiös, es ist unwürdig, es ist beschämend.

Ich wollte auch nicht die 24 Prozent der rechtsextremen (ich hoffe, man darf schreiben, was wahr ist), von Neonazis durchsetzten (ich hoffe, man darf schreiben, was wahr ist) FPÖ Niederstösterreich gegen die jeweils etwa 10 Prozent der diversen rechtsextremen Kleinparteien in Israel aufrechnen.

Ich wollte lediglich auf eine halbe Million Menschen in Israel hinweisen, die Woche um Woche auf die Straße gehen und damit ein lebendiges, demokratisches Gegengewicht zu Rassismus und entgleistem Nationalismus darstellen.

Der Philosoph und Publizist Bernard-Henri Lévy nennt in seinem Kommentar „Israel, sein Genie und seine schlechten Hirten“ den Aufstand der israelischen Zivilgesellschaft „das kräftig schlagende Herz der einzigen Demokratie im Nahen Osten“.

Er sagt auch den Erfolg der Verteidiger und Helden des Landes – wie er sie nennt – voraus: „Israel hat so viele Krisen überstanden, dass es wenig Zweifel am Ausgang gibt, denn in der langen Geschichte dieser jungen Nation haben die schlechten Hirten nur wenig ausrichten können.“ Aufstand kommt von Aufstehen und das ist, was Hingefallene tun.

Und selbst wenn es nicht gelingt, darf man sich nicht entmutigen lassen, darf man nicht verzagen, denn „so wie es eine Idee von Frankreich oder Italien oder irgendeinem anderen Land gibt, die politische Entstellungen überlebt, so wird auch Israel verletzt, verzerrt – aber doch lebendig bleiben “ und aufstehen.

Wo ist der Widerstand, dass man Gleiches auch über Niederstösterreich sagen könnte?

Was ist die Idee von Niederstösterreich, die die Entstellung durch die ÖVP und FPÖ überleben wird? Wenn wir von Niederstösterreich reden, reden wir dann noch von Hingefallenen oder schon von Gefallenen?

Kaum war mein undifferenzierter Israel-NÖ-Vergleich rausgetwittert, schon wurde ich von allen Seiten abgewatscht. Twitter-Watschn sind nicht wie echte Watschn. Sie tun anfänglich gar nicht weh, ist das Gifterl des Schrifterls aber einmal eingesickert, kann es schon ganz ordentlich schmerzen.

„Nestbeschmutzer!“ war noch das Mildeste. Warum will keiner verstehen, dass ich mit meinen zwei Pässen (Österreich und Israel) im Moment ein doppeltes Opfer von Rassisten bin? In Österreich kommt allerdings der Antisemitismus der Landbauern und Waldhäusls dazu und der ist – für mich – eine tonnenschwere Zuwaage. Die entscheidende Zuwaage.

Man muss sich aber auf Twitter nicht wehrlos abwatschen lassen. Man macht es wie Politiker bei Interviews: wenn ihnen etwas nicht passt, schwenken sie einfach auf etwas anderes um. Ich erweiterte also den Radius meines Rundumschlags, sprengte die Grenzen von Niederstösterreich und ließ die Fetzen über das ganze Staatsgebiet fliegen. Es ging um die Frage – die eigentlich keine Frage mehr ist – ob Niederstösterreich nicht die Durchlaufprobe für eine schwarzblaue oder blauschwarze Koalition nach der nächsten Nationalratswahl ist.

Und weil ich gerade so schön im Schwung war, twitterte ich: „Für jeden, der 1+1 zusammenzählen kann, ist klar, dass die nächste Koalition im Bund blauschwarz sein wird. Warum kann die SPÖ nicht 1+1 zusammenzählen?“

Patsch, jetzt hatte ich nicht nur die Blauen, die Braunen und die Schwarzen am Hals, sondern auch die Roten. Zumindest jene Roten, die immer noch glauben, dass eh alles dulli ist in der Ex-Arbeiterpartei, Ex-für-die-Benachteiligten-da-sein-Partei, Ex-für-die-Zurückgelassenen-da-sein-Partei, Ex-für-die-Hingefallenen-da-sein-Partei, eben Ex-Sozialgerechtigkeitspartei.

Ich gebe ja gerne zu, dass es über meine Schmerzgrenze geht, dass die SPÖ, die ich jahrzehntelang gewählt habe, sich gerade zu einem Zeitpunkt selbst demontiert, an dem sie die ausschlaggebende Kraft wäre – nein, zu sein hat – die dieser blauschwarzen Koalition (Robert Misik: „Das Widerwärtigste aus beiden Welten“) ein Modell entgegenzusetzen hat.

Die Grünen brauchen übrigens in dieser Angelegenheit auch nicht so unschuldig dreinzuschauen. Klimasesselkleben in einer Koalition mit einer ÖVP, die immer rechter und unrechter wird, ist auch nicht abendfüllend. Also twitterte ich: „Wenn die Grünen noch jemals gewählt werden wollen, dann müssen sie die Koalition verlassen. Jetzt!“

Ich wollte – in meiner politischen Naivität – nur darauf hinweisen, dass die Grünen sich zu entscheiden haben, ob sie nur Hingefallene oder endgültig Gefallene sein wollen. Politisch naiv ist, wenn man sagt, was man sich denkt.

Na prompt meldeten sich die Twitter-Realpolitiker.

Ob ich die blauschwarze Koalition denn schon gern ein Jahr früher haben will?

Ob ich nicht verstehe, dass man abwarten muss, bis sich die niederstösterreichische Koalition derstesst (ha ha, und wer wird ihr ein Haxl stellen?)?

Ob ich der SPÖ nicht die Zeit geben will, sich zu finden?

Die verstehen nicht, dass Twitter nichts mit Realpolitik zu tun hat. Realpolitik würde so ausschauen: Ich höre auf, sinnlos in der Gegend herumzutwittern, werde bis Freitag SPÖ-Mitglied, kandidiere für den Vorsitz, verliere krachend, weil mich keine Sau kennt, aber habe trotzdem etwas gegen die blauschwarze Koalition gemacht, weil die SPÖ aufwacht, sich entscheidet, nur eine Hingefallene und keine Gefallene zu sein und beginnt, nach einer oder einem wirklich geeigneten Vorsitzenden zu suchen.

Na ja, vielleicht doch nicht so real.

Wieder was gelernt,

Ihr Harry Bergmann


Dr. Harry Bergmann, Werbedilettant (gar nicht einmal so schlecht), Kolumnisten-Dilettant (na, ja…). Hat durch das Schreiben einige Freunde verloren, aber mehr gewonnen (glaubt er zumindest). Denkt seit einiger Zeit darüber nach, ob der Flug Wien – Tel Aviv ein Hinflug oder ein Rückflug ist.

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