Der Spuk

Unser Kolumnist Harry Bergmann ist wieder in Israel und holt sich auf einer Großdemo den Optimismus zurück, den er verloren geglaubt hatte.

Harry Bergmann
am 13.03.2023

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Vom Flieger auf die Demo: Harry Bergmann liefert das Foot zur Kolumne diesmal selbst

Seit Wochen sage und schreibe ich, dass die Situation in Israel nur ein Spuk ist, ein angsteinflößender, ein beschämender, ein „das-hätte-ich-nicht-für-möglich-gehaltener“, aber eben nur ein Spuk, der hoffentlich bald („bald“ als Gefühl, nicht als Zeitangabe) wieder dorthin verschwunden sein wird, wo er herkommt, nämlich von den extremsten Rändern des politischen Spektrums.

In einem Moment der Unsicherheit – nicht über das Geschehen in Israel oder das in Zukunft Geschehen-Werdende, sondern über die Wortwahl – habe ich die Definition von „Spuk“ nachgelesen. Da steht: „Spuk ist eine Bezeichnung für nicht offensichtlich wissenschaftlich erklärbare, unheimliche Erscheinungen. Die Naturwissenschaft erklärt Spuk mit natürlichen Ursachen, als Illusion oder psychologischen Effekt. Nach Ansicht der Parapsychologie bleibt dagegen auch nach Anwendung aller natürlichen Erklärungen ein Rest unerklärlicher Phänomene.“

Also Illusion ist es leider keine, aber ein Rest an unerklärlichen Phänomenen bleibt allemal.

Also ja. Ein Spuk.

Nun ist es ja nicht so, dass ich reden und schreiben kann, was und wie es mir passt. Vielmehr kann ich schon reden und schreiben, was und wie es mir passt, aber nicht unwidersprochen.

Kaum hatte ich das Wort Spuk ausgesprochen oder niedergeschrieben, ging ein Tsunami an Reaktionen über mich hinweg. Ob ich denn schon einmal etwas von Demographie gehört hätte? Bevor ich noch die Frage mit „ja“ beantworten konnte, wurde mir überschlagsmäßig vorgerechnet, um wie viel schneller der Anteil der Orthodoxen und Ultraorthodoxen bzw. der Anteil der in Israel lebenden Araber wächst und wann sie die Mehrheit im Land sein würden und wie das das Land in den nächsten Generationen verändern und prägen wird.

Kaum ließen die Demographen von mir ab, kamen die Mahner. Ich sollte das, was in Israel gerade passiert, nicht abtun oder kleinreden. „Tu ich nicht“, hielt ich dagegen. Tu ich tatsächlich nicht.

Dann kamen die, über so viel Naivität – nämlich meine – mitleidig lächelnden Kopfschüttler. Wie man denn so blind sein könnte, nicht zu sehen, wie sich das Land in eine Diktatur verwandelt, nein, bereits in eine Diktatur verwandelt hat. Als ob Autokratie nicht schlimm genug wäre.

Schließlich – das darf bei Israel ja nie fehlen – die als Besorgnis getarnte antisemitische „Fanpost“. Und Antisemitismus ist ja, wie wir seit Jahrhunderten leidvoll zur Kenntnis nehmen müssen, gekommen, um zu bleiben.

Also nein. Kein Spuk.

„Grau, teurer Freund, ist alle Theorie und grün des Lebens goldner Baum“. Also setzte ich mich wieder einmal in ein Flugzeug, um mir den Kampf der israelischen Zivilgesellschaft für Humanismus, Aufklärung, soziale Gerechtigkeit, Rettung der Justiz und Verteidigung einer liberalen Demokratie aus der Nähe anzusehen. Nicht nur darüber zu lesen und zu hören, sondern es zu fühlen.

Kaum angekommen, ging es am gleichen Abend schon auf die Demo. Es war die Donnerstag-Demo. Es war d-i-e Donnerstag-Demo. Das „d-i-e“ erkläre ich Ihnen etwas später, wenn Sie es nicht ohnehin in den Nachrichten gesehen und gehört haben.

Die Donnerstag-Abend-Demo ist die „Kleine“ mit mehreren Tausend Teilnehmern. Die „Große“ ist die Samstag-Abend-Demo, zeitgleich in Tel Aviv, in Jerusalem und in vielen anderen Städten Israels mit mehreren Hunderttausend Teilnehmern.

Es waren vielleicht zwei- oder dreitausend, die sich am Platz vor der Philharmonie versammelt hatten und es wurden immer mehr und mehr, je länger sich die Menschenschlange durch Tel Aviv mäanderte. Ich war überwältigt. Überwältigt von der Entschlossenheit und vor allem von der Friedfertigkeit, gemessen an der Wut und Verzweiflung, die die Leute mehrmals in der Woche auf die Straße treibt.

Ich sprach wildfremde Menschen an, weil ich plötzlich das Gefühl hatte, dass mir hier niemand wildfremd war.

Ich sprach mit einem Mann, der mir gestand, dass er Netanjahu gewählt hat. Auf meine Frage, was er dann hier macht, antwortete er: „Ich bin da, weil ich mich schäme. Ich schäme mich, was aus meiner Stimme geworden ist.“

Ich sprach mit einer alten Dame, die mir erzählte, dass sie in ihrem ganzen Leben nie auf einer Demo gewesen sei, jetzt dafür aber jeden Tag. „Ich werden nicht müde werden, bis ich mein Israel wieder zurückbekomme. Wenn es sein muss, werde ich dafür eben länger leben.“

Ich sprach mit einem Reservisten, der mir erklärte, dass Reservisten nicht mehr zu ihren Übungen gehen wollen. Reservisten – müssen Sie wissen – sind das Herzstück der israelischen Armee und die israelische Armee ist das Herzstück im Überlebenskampf des Staates.

Ich dachte: „Eine Demokratie macht sich unregierbar, damit sie überlebt.“ Bewundernswert.

Also ja. Ein Spuk.

Während der Demonstrationszug, DE-MO-KRA-TIA DE-MO-KRA-TIA skandierend, eine Straße nach der anderen füllte, passierte das, was früher oder später passieren musste. Ich sage „musste“, weil es dem unerträglichen Muster dieses Teils der Welt folgt. Nicht allzu weit von der Demo entfernt, schießt ein Attentäter wahllos drei jungen Männern – von hinten – in Kopf und Rücken. Die drei waren unterwegs zur Hochzeit eines Freundes, jetzt liegen sie im Spital und die Ärzte kämpfen um ihr Leben. Der Attentäter selbst wird noch am Tatort erschossen.

Das macht nicht nur Angst, sondern es ist auch noch Wasser auf die Mühlen der rechtesten Regierung, die Israel je hatte. Wenige Stunden nach dem Attentat wird das Haus des Attentäters und seiner Familie im Westjordanland gesprengt. Die Spirale der Gewalt dreht sich weiter und weiter und weiter.

Also nein. Kein Spuk.

Und immer wieder die Frage: geht es nur um einen Mann? Geht es nur um Netanjahu? Geht es nur um den Mann, der die gesamte Justiz auszuhebeln versucht, um seiner eigenen Strafverfolgung zu entgehen? Geht es – wie Zeruya Shalev in der ZEIT schreibt – „um die Liebe eines Regierungschefs zu seinem Staat, von dem er sich betrogen fühlt und deshalb einen Rachefeldzug gegen ihn beginnt“? Wenn es nur um die Erstversorgung der blutenden Demokratie ginge, dann würde es schon helfen, wenn Netanjahu nicht mehr im Spiel ist, denn dann wären sofort andere Konstellationen und Koalitionen möglich, die das Land wieder stabilisieren. Aber Netanjahu ist gewählt und ist, weil die Situation ist, wie sie ist, an seinen Koalitionspartner gekettet. Netanjahu, der Zauberlehrling, wird die Geister, die er rief, nicht mehr los. Er ist Geiselnehmer und Geisel in einem.

Und: Es geht eben nicht nur um einen Mann. Es geht um eine schon lang anstehende Reform, die einen lebbaren Machtausgleich zwischen Höchstgericht und Parlament herstellt.

Also nein. Kein Spuk.

Wenn man zwischen Wissen und Glauben, zwischen Erfahren und Erkennen, zwischen Pessimismus und Optimismus, zwischen Wut und Scham, versucht seine eigene Position zu finden, dann ist es gut, sich anzuhören, was Yuval Harari zu sagen hat.

Es ist immer gut, sich anzuhören, was Yuval Harari zu sagen hat.

Er spricht von einem „irreversiblen Prozess“, der losgetreten wurde, kann oder will sich aber nicht festlegen, wohin dieser Prozess führt. „Entweder Israel fällt in eine Diktatur, und es liegt an der Armee und der Polizei zu entscheiden, welche Anordnungen sie befolgen (die des Parlaments oder die des Höchstgerichts) oder der Widerstand der Zivilgesellschaft schafft es, die angestrebten Reformen so zu mildern, dass Israel als stärkere Demokratie hervorgeht.“

Ich bin nicht Harari, aber ich lege mich fest. Netanjahu und seine unheilvolle Allianz haben – ganz gegen ihre Absicht – jetzt schon eine stärkere, wehrhaftere Demokratie geschaffen. Ich habe sie am Donnerstag am Abend auf der Demo nicht nur gesehen und gehört. Ich habe sie wirklich gefühlt.

Und noch etwas: wir können uns nicht leisten, pessimistisch zu sein!

Also ja. Ein Spuk.

Meint,

Ihr optimistischer Harry Bergmann

Epilog: Oft erledigen sich Dinge von selbst. Ich dachte, ich hätte in Wien eine Rede versäumt, aber dann hat sich herausgestellt, dass ich keineswegs in Wien eine Rede versäumt habe. Und wenn ich es richtig verstanden habe, dann habe ich bis 2030 Zeit, mich genauer zu erkundigen, was ich nicht versäumt habe. Aber eine Frage stellt sich schon: wann ist eigentlich dieser Spuk vorbei? Ist das, was auf diesen Spuk folgt, nicht noch schlimmer als das, was jetzt ist, und werden dann die, die sich über Israels Rechtsruck empören, auf die Straße gehen und mit bis zu fünfhunderttausend anderen im ganzen Land demonstrieren? So ist das mit den Fragen: aus einer werden drei.


Dr. Harry Bergmann, Werbedilettant (gar nicht einmal so schlecht), Kolumnisten-Dilettant (na, ja…). Hat durch das Schreiben einige Freunde verloren, aber mehr gewonnen (glaubt er zumindest). Denkt seit einiger Zeit darüber nach, ob der Flug Wien – Tel Aviv ein Hinflug oder ein Rückflug ist.

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