Rückkehr zum Kehren

Nicht alle, die die FPÖ wählen, wählen sie, weil dort so viele Nazis sind. Aber sie wählen sie, obwohl dort so viele Nazis sind. Und das ist schlimm genug.

Harry Bergmann
am 08.02.2023

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Blau: Ein Farbton mit vielen Bedeutungen | Foto: Friedrich Böhringer | CC BY-SA 2.5

„Blau oder Weiß?“ Die Frage ist auf Anhieb nicht zu beantworten. Auf den zweiten Hieb übrigens auch nicht. Selbst wenn man weiß, was mit dieser Frage gemeint ist, fällt es offensichtlich vielen Menschen schwer, sie richtig – oder zumindest anständig – zu beantworten.

Ich weiß noch, wie der Gedanken zu dieser Frage aufgekommen ist. Der Gedanke war nämlich ursprünglich gar keine Frage. Es ging nicht um „Blau oder Weiß“, es ging um „Blau und Weiß“. Das sind die Nationalfarben Israels und ja – das war jetzt nicht besonders schwer zu erraten – ich bin gerade wieder einmal in Tel Aviv gelandet.

Da sehe ich diesen blauen Davidstern auf weißem Grund und denke mir: „Warum, um alles in der Welt, hat der Davidstern die gleiche Farbe wie die Partei dieses niederösterreichischen Liederfürsten und seines Kumpans, der bedauert, dass Wien nicht mehr Wien ist?“ Was für eine Ironie!

Bevor Sie jetzt ein sarkastisches Lächeln aufsetzen und in den Chor der „Was ist da eigentlich los bei Euch in Israel?“-Sänger einstimmen oder sich ein eher betretenes Lächeln abringen, das sagen will „Sollten Sie nicht lieber vor ihrer eigenen israelischen Tür kehren, bevor Sie die FPÖ zum hundertsten Mal in das Rassisten-Eck stellen?“, komme ich Ihnen lieber zuvor: also gut, ich kehre vor meiner israelischen Tür.

Was derzeit passiert, ist grauslich. Die Tatsache, dass es nur wegen eines Mannes passiert, der alles – sprich: a-l-l-e-s – tun würde und auch tut, um ein Gerichtsverfahren und einen ziemlich wahrscheinlichen Schuldspruch abzuwenden, macht es leider nicht weniger grauslich. Vor nicht allzu langer Zeit antwortete dieser Mann auf die Frage, ob er mit der Ultrarechten zusammenarbeiten würde, dass er niemals diese rote Linie überschreiten würde und sich deshalb solch provokante Fragen verbitte. Die Grauslichkeit ist wohl auch eine Tochter der Zeit.

Dass die Ultrarechte „nur“ 10% der Stimmen bekommen hat (im Vergleich zum Liederfürsten und seinen 24% – okay, okay, ich kehre schon vor der israelischen Tür weiter – und „nur“ durch eine momentane, polit-arithmetische Konstellation an die Schalthebel gekommen ist, macht es auch nicht weniger grauslich.

Aber: Was derzeit in Israel passiert, wird nicht lange halten. Kann nicht lange halten.

Denn es gibt das „andere“ Israel, mit dem gleichen Feuer und der gleichen Liebe zu dem Land wie vor der Wahl.

Es gibt jede Woche – allein in Tel Aviv – 150.000 Menschen, die auf die Straße gehen. Und das ist nur ein kleiner Teil derer, die mit Entschlossenheit und Herzblut gegen Netanjahu gestimmt haben und die vielleicht schon morgen ebenfalls auf die Straße gehen werden.

Es gibt die höchstentwickelte High-Tech-Industrie der Welt, die mit beiden Beinen in diesem anderen Israel steht.

Es gibt die Jüngeren, Bessergebildeten, Aufgeklärteren, die auch mit beiden Beinen in diesem anderen Israel stehen.

Es gibt Wirtschaftsdaten, die nur darauf warten, schlechter zu werden. Und mit immer schlechter werdenden Wirtschaftsdaten lässt sich auf Dauer kein Staat machen. Fragen Sie Orbán, fragen Sie Erdoğan.

Und es gibt die USA. Wenn Sie zufällig gehört haben, was Außenminister Blinken – diplomatisch – bei seinem Besuch in Israel und – weniger diplomatisch – nach seiner Rückkehr in die USA gesagt hat, dann geben Sie mir vielleicht sogar recht.

David Ben-Gurion, der erste Ministerpräsident Israels, sagte: „Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist.“ Also probiere ich mich als Realist aus und glaube, dass sogar ein Teil der Wähler von Netanjahu jetzt erschrocken sind, was aus ihrer Stimme geworden ist. Es sind vielleicht nicht viele, aber genug, um bei der nächsten Wahl das Pendel wieder in die andere Richtung ausschlagen zu lassen. In einem Land, in dem in den letzten dreieinhalb Jahren fünfmal gewählt wurde, wird die nächste Wahl nicht allzu lange auf sich warten lassen.

Ich gebe zu, ich kann im Moment kehren, soviel ich will, es wird nicht viel sauberer vor der israelischen Tür, aber ich würde gern – Ihr Einverständnis vorausgesetzt – zu meiner anderen Haustür zurückkehren. Zum Kehren zurückkehren!

Ich mache das nicht, um die beiden Blaus miteinander zu vergleichen oder gar das eine Blau gegen das andere Blau aufzurechnen, ich mache es, weil ich in den letzten Wochen immer wieder von Menschen, die das hiesige Kornblumen-Blau als kleinen, demokratie-irritierenden Schluckauf abtun, wegen des „ungeheuerlichen Rechtsrucks“ des dortigen Davidstern-Blaus inquisitionsartig befragt werde. Ja, das nervt.

Warum wählt einer diesen Kickl, diesen Landbauer, diesen Waldhäusl? Was heißt hier „wählen“? Warum machen so viele diesen Kickl, diesen Landbauer, diesen Waldhäusl zur Nummer 1 in diesem Land?

Damit sie verstehen, warum ich das so naiv frage, gebe ich Ihnen eine kleine, ganz aktuelle Kostprobe der Empathie, Menschlichkeit und Anständigkeit des blauen Liederfürsten: „Es ist unglaublich, mit welcher Unverfrorenheit gerade grüne Politiker immer wieder unser Steuergeld an das Ausland verschenken. 5 Millionen für die Ukraine von Frau Gewessler, 3 Millionen von Herrn Kogler für die Türkei.“ So redet der über Opfer von Krieg und Erdbeben.

Nicht alle, die die FPÖ wählen, wählen sie, weil dort so viele Nazis sind, aber sie wählen sie, obwohl dort so viele Nazis sind. Und das ist schlimm genug, denn genau so hat es schon einmal angefangen.

Ich versuche mir das bildlich vorzustellen. Ich stehe – auf die Politik der Regierung angefressen, soll es ja geben – in der Wahlzelle. Vor mir der Wahlzettel. Schwarze und Grüne kommen also nicht infrage, weil eben angefressen. Bei den Roten bekomme ich einen roten Kopf, weil mir „Rote Hanni“ einfällt und ich nicht einmal mehr Mitleid empfinden kann. Die Pinken habe ich nicht auf dem Schirm, warum auch immer. Und dann mach ich ein Kreuzerl bei den Blauen??!! Wie jetzt?

Und jetzt frage ich mich – naiv oder nicht – wenn ich jemand Unanständigen wähle, bleibe ich dann trotzdem anständig? Das gilt natürlich ebenso für das wüste Israel wie für das alpenglühende Österreich.

Sehen Sie, deshalb bin ich für eine weitere Farbe am Wahlzettel: weiß.

Ich will bei „Weiß“ ein Kreuzerl machen können. Ich will meinen Protest gegen das Angebot der wahlwerbenden Parteien aktiv zum Ausdruck bringen können. Ich will, dass die weißen Stimmen gezählt und ausgewiesen werden.

Dann ist nämlich eine blaue Stimme nichts anderes als eine blaue Stimme.

Meint Ihr

Harry Bergmann


Dr. Harry Bergmann, Werbedilettant (gar nicht einmal so schlecht), Kolumnisten-Dilettant (na, ja…). Hat durch das Schreiben einige Freunde verloren, aber mehr gewonnen (glaubt er zumindest). Denkt seit einiger Zeit darüber nach, ob der Flug Wien – Tel Aviv ein Hinflug oder ein Rückflug ist.

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