Der Fingerhut und das Nähkästchen

Unser Kolumnist über Sachen, die aus dem Rahmen fallen - ob der nun von Basquiat ist oder nicht

Harry Bergmann
am 14.12.2022

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Foto: Unsplash

Es gibt Worte, die völlig verstaubt sind, weil die Dinge, die sie bezeichnen, noch viel verstaubter sind, als die Worte selbst. Fingerhut und Nähkästchen sind solche Worte.

Natürlich ist es nicht auszuschließen, dass derjenige, dem solche Worte überhaupt in den Sinn kommen – also ich – selbst der Staubfänger ist. Aber das wollen wir – bitte!! – ganz schnell wieder vergessen. Schließlich treffen wir uns hier auf einer Online-Plattform, wo alles Analoge oder gar Nostalgische verpönt ist oder zumindest aus dem Rahmen fällt, ob der jetzt von Basquiat ist oder nicht.

Das Digitale liebt auch keine ausufernden Formulierungen oder mäandernden Texte. Das Digitale ist knackig. Das Digitale ist direkt. Das Digitale ist kurz. Das Digitale kennt den Attention Span – eigentlich die Aufmerksamkeitsspanne, aber das Digitale liebt alles Englische – und dieser Attention Span ist eben kurz.

Unlängst schrieb mir ein über meine Kolumnen offensichtlich besonders Angefressener folgendes auf Twitter: „Wenn auch inhaltlich vollkommene Zustimmung angebracht ist, so erschließt sich der Wert der krausen Gedankensprünge und Wortspiele nur schwer. Das Gesagte wäre in vier geraden Sätzen besser gesagt.“ Ich habe darauf nicht geantwortet, man weiß ja im digitalen Zeitalter nicht wirklich, mit wem man es zu tun hat. Vielleicht hat es sich ja um den Enkel des Erfinders des Telegramms gehandelt.

Im Digitalen gibt es keinen Platz für den Fingerhut und das Nähkästchen. Für den Fingerhut nicht, weil im analogen Zuhause kaum mehr genäht wird und der Finger (welcher eigentlich?) nicht mehr geschützt werden muss, für das Nähkästchen nicht, weil man keinen geheimen Platz für erhaltene Liebesbriefe braucht. Wozu Liebesbriefe, wenn man mit fünf Emojis das Gleiche sagen kann? Gut, dass Cyrano de Bergerac die Erfindung der Emojis nicht mehr erleben musste.

Ich komme wieder vom Hundertsten ins Tausendste – auch so eine blöde, analoge Angewohnheit – wo ich doch gerade für diese Kolumne einen klaren Auftrag habe. Sie erinnern sich vielleicht, dass ich Ihnen am Hinflug nach Tel Aviv erzählt habe, wie neugierig ich bin, wie sich „mein“ Israel nach der Wahl anfühlen wird und dass ich Ihnen am Rückflug darüber berichten werde. Nun, da ich wieder in Wien bin, kann ich es Ihnen sagen: Es fühlt sich nicht so besonders gut an. Wenn man liest, was die designierte neue Regierungskoalition – die noch immer keine im Amt befindliche Regierungskoalition ist, weil das gegenseitige Misstrauen im Moment noch größer ist als die unbändige Lust, die Gesetze des Landes auf den Kopf zu stellen – vorhat, kann einem schon bange werden.

Mehr möchte ich eigentlich nicht aus dem Nähkästchen plaudern, weil ich mich an David Ben-Gurion halte, der sagte: „Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist.“ Ich glaube an die fast 50 Prozent der Bevölkerung, die Netanjahu nicht nur nicht gewählt hat, sondern mit voller Inbrunst ablehnt. Ich glaube, dass viele, die Netanjahu gewählt haben, bald realisieren werden, dass sie d-a-s nicht gewählt haben. Ich glaube, dass die allzu bequeme, liberale Mitte mobilisierbar ist. Nämlich dann, wenn sie erkennt, dass Achselzucken kein Fortbewegungsmittel ist. Die Straße ist da, man muss sie nur nutzen. Ich glaube, dass dann Netanjahu selbst begreifen wird, dass er damit nicht durchkommt. Siehe Zauberlehrling und die Geister, die er rief.

Und was dann? Ganz einfach: die sechste Wahl. Ich glaube, das nennt man Demokratie.

Apropos Demokratie, fällt mir ein, dass ich ja wieder in der glühenden „Grüß Gott!“-Alpendemokratie bin und da fällt mir wiederum ein: Was ist eigentlich aus unseren Donnerstag-Demonstrationen geworden?

Geht hierzulande noch zu wenig schief?

Ist eh alles dulli, wenn die FPÖ Nummer 1 ist?

Warten wir jetzt einfach solange, bis eine Koalition ohne diese FPÖ überhaupt nicht mehr möglich sein wird?

Begehen wir lieber in andächtigem Respekt den ersten Geburtstag der Kanzlerschaft von einem Kanzler, der gar nichts schafft?

Lassen wir uns alle – wie die Lemminge – vom Comeback der Message Control wieder den Kopf verdrehen?

Soll das Gedeih von allen Österreichern – wenn es sowas überhaupt noch gibt – einzig und allein von einer Wahl in Niederösterreich abhängen? Darf also der Schwanz weiter mit dem Hund wedeln?

Hat die ÖVP wirklich schon alles in Österreich zerstört, was sie zerstören kann, sodass wir nichts dagegen haben, dass sie sich jetzt in aller Ruhe auf die Zerstörung des Schengen-Raums konzentriert?

Warten wir ab, wie der feinste Innenminister von allen allen Herumlungerern, Taugenichtsen, Tunichtguten, dem Lieben-Gott-den-Tag-Stehlern das Arbeiten verweigert, damit sie tatsächlich Herumlungerer, Taugenichtse, Tunichtgute oder dem Lieben-Gott-den-Tag-Stehler werden?

Sehen wir tatenlos zu, wie die untersuchten Korrupten die Korruption immer um eines öfter verlängern, als die Untersuchung des Korruptions-Untersuchungsausschuss verlängert wird?

Also vielleicht sollten wir uns für die ersten paar Donnerstage im neuen Jahr tatsächlich vor dem Bundeskanzleramt verabreden und einen kleinen gemeinsamen Spaziergang um den Ring machen. Einen fingerhut-kleinen Erfolg könnte es ja haben. Und wenn nicht, waren wir zumindest an der frischen Luft.

Die Monarchie ist jedenfalls auch keine Alternative. Das kann ich schon nach ein paar unsäglichen Minuten „Sisi“, der neuen Fernsehserie, sagen. Der Fingerhut und das Nähkästchen wären zwar noch in Aktion, aber das macht‘s – bei aller Liebe zum verstaubten Analogen – auch nicht besser.

Meint Ihr

Harry Bergmann (der davon ausgeht, dass am Sonntag Argentinien und Frankreich im Finale spielen)


Dr. Harry Bergmann, Werbedilettant (gar nicht einmal so schlecht), Kolumnisten-Dilettant (na, ja…). Hat durch das Schreiben einige Freunde verloren, aber mehr gewonnen (glaubt er zumindest). Denkt seit einiger Zeit darüber nach, ob der Flug Wien – Tel Aviv ein Hinflug oder ein Rückflug ist.

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