Kalte Füße im heißen Sand

Von politischen Stolpersteinen in der katarischen Wüste und der pannonischen Tiefebene

Harry Bergmann
am 25.11.2022

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Die letzten Tage war ich hin- und hergerissen. Ich gebe zu, ich bin oft hin- und hergerissen, aber beim Schreiben dieser Kolumne passiert mir das eigentlich nie. Diesmal schon. Zuerst fiel mir tagelang gar nichts ein, dann wieder stündlich etwas anderes.

Also „einfallen“ ist nicht ganz korrekt. Das würde nämlich bedeuten, dass ich mich konzentriert vor meinen Laptop setze – oder heißt das hinter den Laptop? – und halbwegs geordnet darüber nachdenke, was mir im Moment besonders wichtig wäre zu schreiben, oder zumindest Ihnen wichtig sein könnte zu lesen. So funktioniert das aber nicht. Leider nicht.

Ich höre Sie sagen: „Das wäre zur Abwechslung gar nicht einmal so schlecht. Dann käme vielleicht etwas Lesenswerteres dabei heraus und ich müsste mich nicht ärgern, dass ich diese halbgaren Kolumnen abonniert habe.”

Ich werde versuchen, Ihnen zu erklären, wie das Verfassen so einer Kolumne bei mir abläuft: meist stolpere ich ganz zufällig über irgendetwas, obwohl ich, wie gesagt, im Sitzen schreibe. Ein Wort. Eine Headline. Ein Zitat. Ein Bild. Das bleibt bei mir hängen oder besser: ich bleibe daran hängen, komme ins Stolpern und im Fallen fange ich an zu schreiben.

Dann wird aus diesem Wort ein Gedanke – meistens wirr – und aus dem Gedanken ein ganzes Gedankengebäude – meistens wackelig – und dann verliere ich mich in diesem Gedankengebäude in zum Teil kühnen Assoziationen. Und irgendwann nach ungefähr achthundertneunundneunzig weiteren Worten, aus. Fertig aus.

Diesmal so geschehen mit dem Wort Katarrh. Ja, natürlich haben Sie dieses Wort in den letzten Tagen hunderte Male gehört, nur gelesen haben Sie es – zumindest in dieser Schreibweise – nicht. Katarrh, das ist – wie Sie ja sicher wissen – diese Entzündung der Atmungsorgane, die eine Unmenge von grauslichem Schleim produziert.

Auf diesem Schleim bin ich übrigens in noch ein anderes, ähnlich klingendes, Wort hineingeschlittert, Katharsis. Das wiederum ist – wie Sie natürlich auch wissen – die seelische Reinigung, die Läuterung des Zusehers durch das antike Trauerspiel. Sagt zumindest Aristoteles.

Katarrh und Katharsis, das sind meine beiden heutigen Stolpersteine. Und schon zeichnet sich ein Gedanke ab: unsere Welt ist voll von Entzündungsherden, von grauslichem Schleim, der einem den Atem raubt, von Trauerspielen aller Art. Wir schauen uns das alles aus sicherer Distanz an, rümpfen vielleicht die Nase, wenn das Unrecht beginnt, zum Himmel zu stinken, verurteilen hypokritisch die Fehler und Missetaten der anderen, die zum Teil unsere eigenen sind, aber mit der Katharsis, mit der Läuterung haben wir wenig bis gar nichts am Hut.

Bevor ich zu den ganz aktuellen Trauerspielen an den Ufern des Persischen Golfs komme, wo ein Staat sogar nach dem Katarrh benannt ist, weil sich dort Diktatur, Willkür, Verachtung der Menschenrechte, Korruption und weltweiter Terror schon lange entzündet haben, möchte ich noch kurz an den Ufern des Neusiedlersees verharren. Sozusagen „Öha, statt Doha.“

Ja, meine Assoziationsketten sind seltsame Reiseführer. Ich will zu Tamim bin Hamad Al Thani, dem Emir von Katar, und plötzlich fällt mir ein kleiner Umweg über Eisenstadt ein. Zu meiner Ehrenrettung muss ich allerdings sagen, dass es auch da einen Infektionsherd gibt. Einen kleinen halt, ein Katarrherl. Aber immerhin strahlt dieses Katarrherl bis nach Wien aus. Da gibt es eine Frau Rendi-Wagner, die die Vorsitzende einer einst großen, mittlerweile mittelgroßen Partei ist.

Diese Frau Rendi-Wagner hat ihren ganz persönlichen Stolperstein, einen gewissen Herrn Doskozil. Dieser Herr Doskozil, nicht faul, wenn es darum geht dieser Frau Rendi-Wagner das Leben schwerer zu machen, hat eine Umfrage in Auftrag gegeben und dann auch groß publizieren lassen, um zu zeigen, dass er der bessere Vorsitzende dieser mittlerweile mittelgroßen Partei wäre. Er hat sogar feststellen lassen, um wieviel er der bessere Vorsitzende wäre: um 7 Prozent.

Wenn Ihnen die ganze Aktion irgendwie bekannt vorkommt, dann sind Sie womöglich farbenblind. Sie verwechseln Rot mit Türkis. Dieser Herr Doskozil ist übrigens auch farbenblind. Er verwechselt Rot mit Blau. Das erkennt man ganz leicht daran, dass er – obwohl er in einem früheren Leben Gendarm war – nichts dabei findet, Frau Rendi-Wagner verbotenerweise rechts zu überholen. So wird das sicher nichts mit der Nummer 1 für diese Partei, aber darüber kann ich mich in dieser Kolumne nicht auch noch kümmern.

Ich muss jetzt zurück in den heißen Wüstensand, dorthin, wo sich die restanständige Welt – ausgerechnet beim Fußballspielen – gerade kalte Füße holt. Dort gibt es einen Schweizer, der seinen Zweitwohnsitz ganz zufällig gerade dorthin verlegt und für die nächsten Wochen auch Arbeit gefunden hat. Einer von vielen Arbeitsmigranten, sozusagen.

Diese Arbeitsmigranten leben ja gar nicht so gefährlich oder menschenunwürdig, wie man gemeinhin meint, sagte dieser Schweizer unlängst. Und er konnte auch mit Zahlen aufwarten. Das hat er sich von Doskozil abgeschaut. Nur 3 – in Worten: drei – Arbeiter seien bei den Bauarbeiten für die Weltmeisterschaft zu Tode gekommen. Die Zahl 6500 – in Worten: sechstausendfünfhundert – Tote kann nur von Wahrheitsverdrehern, böswilligen Menschenrechtsaktivisten, Demokratieweicheiern, Gerechtigkeitsfanatikern und neidischen Fußballfeinden kommen.

Für wie infantino hält uns dieser Schweizer eigentlich, der sich noch vor ein paar Tagen so arabisch, so afrikanisch, so homosexuell, so behindert und eigentlich alles zusammen gefühlt hat?

Andererseits: diese Fußballweltmeisterschaft ist wie Covid. Sie bringt ständig das Schlechteste, aber manchmal auch das Bewundernswerteste unserer Gesellschaft ans Tageslicht. Ich konzentriere mich auf Letzteres und denke voll Hochachtung und Bewunderung an das Schweigen der iranischen Mannschaft.

Meint

Ihr Harry Bergmann

Jetzt habe ich ganz den Fußball vergessen: ich fühle mit Argentinien und Deutschland. Was ich fühle, verrate ich nicht.


Dr. Harry Bergmann, Werbedilettant (gar nicht einmal so schlecht), Kolumnisten-Dilettant (na, ja…). Hat durch das Schreiben einige Freunde verloren, aber mehr gewonnen (glaubt er zumindest). Denkt seit einiger Zeit darüber nach, ob der Flug Wien – Tel Aviv ein Hinflug oder ein Rückflug ist.

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